Zeit der Redensarten

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Es sind die fünfziger und sechziger Jahre, in denen ich erwachsen, im Dunstkreis der Redensarten, die man allenthalben und überall vernehmen konnte: Wer nicht für uns ist ..., der Schoß ist fruchtbar noch ..., mit Stumpf und Stiel ... - eine Zeit, die eine Zeit der Bekundungen und Parolen gewesen, die das eigene Ich, das persönliche Tun und Lassen überschatteten. In der Zeit der Redensarten verwandelte sich jegliches Ich binnen Sekunden in ein anderes, und standen dann nicht ganz andere Formeln zur Debatte? Bombenwetter, ... bis zur Vergasung, das geht ab wie ne V1 - Formeln mit einem Schatten, der nur schwer zu durchdringen war, und dabei selten die Frage: Was verbirgt sich darin, dahinter ...?

Nein, nicht einmal das Rückgrat, eine solche Frage zu formulieren, tastete sich das Ich vor- oder rückwärts durch die Zeit der Redensarten, der Ver- oder Beleumdungen - der Mund der Straße stand niemals still, regte sich, wann immer in der Siedlung zwei aufeinander stießen und spie aus, was nicht zu fassen. Dieser Mund, der ein Opal, oder eine Muschel, die sich öffnete, und man vermochte das Perlmuttinnere zu sehen, das sonst so ganz ohne Licht, und von dem das Ich kaum einen Schimmer hatte: das glänzte verdächtig ...

Mochte man auch Himmel und Hölle in Bewegung versetzen, der Widerhall, der Bodensatz von all den Redensarten blieb haften im Leib, man hatte einen Schuß oder gehörte in die Anstalt ... Einer für Alle, Alle für Einen hat das Ich bei einer dieser Gelegenheiten gelernt. Wo ein Genosse ist, ist die Partei, lautete eine andere Losung, oder Durchstehen ist alles, das kann doch einen Seemann nicht erschüttern. Und natürlich schwieg das Ich still, wenn es solche Reden hörte, ließ sich das Schweigen vergolden, weil ihm möglicherweise das Hemd näher war als der Rock, nur daß ihm keiner erklärte, was dabei der Vorteil ...

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Geschrieben von

jayne

beobachterin des (medien-) alltags

jayne

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