Am 7. März trifft sich ICANN, die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers, in Kairo. In Ägypten soll unter anderem entschieden werden, wie die ersten weltweiten Wahlen im Internet vonstatten gehen sollen. Auch wenn es bislang nur eine kleine Minderheit zur Kenntnis genommen hat, die Nutzer des Internet haben ein Wahlrecht erhalten. Zur Wahl steht das Direktorium von ICANN, der neuen Selbstverwaltungsinstanz des Internet. Das in Kalifornien residierende Unternehmen erhält die Aufsicht über nahezu alle bestandskritischen Ressourcen und Funktionen, die das Netz der Netze zusammenhalten.
Namen und Nummern gelten derzeit als die kostbarsten Ressourcen der Netzinfrastruktur. Nur auf den ersten Blick handelt es sich dabei um bloß technische Angelegenheiten. Die sogenannten Domainnamen wie www.freitag.de haben sich in den letzten Jahren zu einer Art offizieller Anschrift im Cyberspace entwickelt - eine Funktion, die ihnen nie zugedacht war. Die eigentlichen Internetadressen verbergen sich hinter den Domainnamen. Sie bestehen nämlich nicht aus Buchstaben, sondern aus Bits - profan auch als Nummern bezeichnet.
Die Auseinandersetzung um die Verwaltung der Namen und Nummern des Internet begann Mitte der 90er Jahre. Bis zu diesem Zeitpunkt waren es überwiegend die Techniker, die im Internet das Sagen hatten. Weitgehend autonom hatten sie Ende der 60er Jahre mit der Entwicklung der Netzarchitektur begonnen und folglich auch die Infrastruktur verwaltet - nach Regeln, die dem freien Informationsaustausch der akademischen Community entsprachen, nicht aber den Interessen der neu entstehenden Internetwirtschaft. Das gemeinsame Ziel der Pioniere des Netzes bestand darin, unbegrenzten Zugriff auf die Schätze der digitalen Welt zu bekommen. Heute im Aussterben begriffene Dienste wie Filetransfer oder Telnet wurden ursprünglich entwickelt, um Rechenkapazität oder Programme auch über große geografische Distanzen teilen und kollektiv nutzen zu können. Der weltweit verteilte Datenspeicher für alle versinnbildlicht diese Idee.
Das Prinzip des Teilens spielt auch heute noch eine große Rolle im Netz. Seit der Privatisierung und Kommerzialisierung des Internet konkurriert es jedoch gegen die rechtlich verbürgten Regeln der Marktwirtschaft. Im Windschatten von eCommerce verbünden sich Urheber-, Daten- und Markenschutz gegen die libertäre Tradition des Netzes. Die unermüdliche Jagd der Musikindustrie auf unerlaubte »Downloads« ihrer Produkte ist gewissermaßen eine Spielart im Ringen um die Regeln der Internetökonomie.
Wichtiger für die Entwicklung des Internet selbst ist die Auseinandersetzung um das system von Domainnamen. Noch in den frühen 90er Jahren galten Domainnamen als eine beliebig wählbare Zeichenkette, auf die, weil sich ihr Geltungsbereich auf die digitale Welt beschränkt, niemand Besitzansprüche geltend machen kann. Nachdem sich jedoch allmählich herumsprach, dass Präsenz und Sichtbarkeit im Netz bares Geld wert sind, geriet die bislang eher hemdsärmelige Praxis der Namensvergabe ins Visier von Recht und Politik. Erste Rechtsstreitigkeiten Mitte der 90er Jahre signalisierten den Wandel der Domainnamen von einer öffentlichen Ressource zu einem Wirtschaftsgut. Porsche Cars North America Inc. beispielsweise zog im vergangenen Jahr gegen immerhin 128 Domainnamen, die den Begriff Porsche oder Boxster beinhalten, vor Gericht. Vor allem unter Pornoanbietern ist die Methode verbreitet, potentielle Kunden durch bekannte Namen wie Porsche oder WhiteHouse auf ihre Site zu locken.
Die bedenkliche Zunahme von »Entführungen« und anderweitigen Missbräuchen der Domainnamen veranlasste ab 1996 eine stattliche Zahl international einflussreicher Organisationen, darunter die EU, die OECD, die World International Property Organization (WIPO) und nicht zuletzt die amerikanische Regierung die Governance-Frage zu stellen: Wer und was regiert eigentlich das Internet?
Der Konflikt um das Domainnamensystem trat eine politische Lawine los. Bald ging es nicht mehr nur um die Bewirtschaftung des Namensreservoirs, sondern um alle Funktionen, die einer netzweit einheitlichen Verwaltung bedürfen. Das Internet, so die allgemeine Auffassung, brauchte eine formale justitiable Organisationsstruktur. Uneinigkeit bestand allerdings über deren Gestaltung. Während die Technikergemeinde das Internet auch weiterhin von Technikern verwaltet sehen wollte, favorisierte die EU eine staatliche Lösung. Nur gewählte Regierungen, so begründete Christopher Wilkinson von der Generaldirektion X13 diese Position, könnten all die Millionen gegenwärtiger und potentieller Nutzer tatsächlich repräsentieren. Davon unbeeindruckt beschloss das federführende amerikanische Wirtschaftsministerium im Sommer 1998, ihre Vorstellungen einer privaten, zugleich markt- und basisnahen Organisation gegen alle Vorbehalte durchzusetzen.
Eines der leitenden Prinzipien in der Neuordnung der Netzverwaltung lautet Integration. Im »White Paper« von Juni 1998, dass die Grundzüge der künftigen Netzregierung skizziert, heißt es, dass die neu zu schaffende Organisation die geografische und funktionale Vielfalt des Internet repräsentieren solle. Koordination von unten nach oben (»Bottom-up«) und internationale Partizipation sollen für faire und transparente Verfahren sorgen. Dabei herausgekommen ist ICANN, eine unüberschaubar komplex wirkende Organisation, die sich darin versucht, die relevanten Kräfte und Fraktionen der Netzwelt in Unter- und Unter-Unterorganisationen einzubinden.
Zu den Besonderheiten der neuen Netzregierung zählt, dass erstmalig den Nutzern ein Mitwirkungsrecht eingeräumt wird. Die Geschäftsführung von ICANN wird aus 19 Direktoren bestehen, von denen immerhin acht durch die sogenannte At-large Membership, das Vertretungsorgan der Basis, gewählt werden. Damit die Nutzer ihr Wahlrecht ausüben können, müssen weltweit mindestens 5.000 Mitglieder geworben werden. Gemessen an den mehr als 200 Millionen Menschen, die inzwischen Zugang zum Internet haben, ist das eine bescheidene Zahl. Berücksichtigt man allerdings, dass auch die At-large Membership dem Prinzip geografischer Repräsentation entsprechen soll, wird deutlich, welche logistische Leistung noch vollbracht werden muss, um die weltweite Nutzergemeinde über die Existenz ICANNs und den praktischen Zweck ihres Wahlrechts zu informieren. Die Details des Wahlprozederes werden derzeit ausgearbeitet. Nach den Plänen von ICANN soll noch im Sommer 2000 mit der Wahl begonnen werden.
Die Wahl der restlichen Direktoren obliegt drei Unterorganisationen, die unterschiedliche Funktionen und Fraktionen des Netzbetriebs repräsentieren. Dazu gehören unter anderem die regionalen Nummernregistraturen und nationalen Namensverwaltungen, die Provider, Domainnamenbesitzer und Standardisierungsorganisationen. Kein Stimmrecht besitzen dagegen die Nationalstaaten. Nach mutmaßlich massiven Interventionen der EU gestand das amerikanische Wirtschaftsministerium als Kompromiss ein Beratungsgremium für die Regierungen zu, das sogenannte Governmental Advisory Committee (GAC).
Das Misstrauen gegenüber ICANN ist groß. Die Entscheidung, die gesamte operative Macht über die Infrastruktur unter dem Dach einer zudem amerikanischen Organisation zu konzentrieren, könnte ein Einfallstor für politische und wirtschaftliche Begehrlichkeiten schaffen, die bislang an der technisch verbürgten Unkontrollierbarkeit des Netzes gescheitert sind. Mit ICANN erhält das Internet eine Instanz, auf die sich Druck ausüben lässt. Und es spricht vieles dafür, dass von dieser Möglichkeit auch Gebrauch gemacht wird.
Ein aktuelles Beispiel ist der Vorstoß des GAC, das Territorialprinzip im Cyberspace durchzusetzen. Wie im vergangenen November durch eine der vielen Indiskretionen im Umfeld von ICANN bekannt wurde, fordern die im GAC vertretenen Regierungen, die nationalen Namensräume (etwa «.de« für Deutschland) der staatlichen Souveränität der jeweiligen Länder zu unterstellen. Kurioserweise erstreckt sich dieses Ansinnen im Falle von Großbritannien und Frankreich auch auf die Namensräume ihrer Überseeterritorien. Ob der Regierungsinitiative Erfolg beschieden sein wird, mag sich in Kairo zeigen. Schon jetzt aber zeichnet sich ab, dass die Nationalstaaten in der Lage sind, ihre Interessen auch ohne förmliches Wahlrecht lautstark geltend zu machen. Fraglicher ist dagegen, ob es den Nutzern, die bei weitem fragmentierteste von allen Gruppen innerhalb ICANNs, überhaupt gelingen wird, sich auf eine kollektive Position zu verständigen.
ICANN ist ein organisatorisches Novum in der Verwaltung von Kommunikationsnetzen. Erstmalig erhalten die Nutzer direkten Einfluss auf relevante Entscheidungen über das Internet. Abzuwarten bleibt, ob sich dieses Experiment in globaler Willensbildung auch politisch niederschlägt.
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