Berlin ist seit zehn Jahren die Heimat von Marica Bodrožić. Hier lebt die 39-Jährige mit ihrem Mann, hier schreibt sie ihre Gedichte, Erzählungen, Romane und Essays, die vielfach ausgezeichnet wurden.
Davor gab es andere Leben, in Zürich, Paris, in Frankfurt am Main, wo sie studierte, im Taunus, wo ihre Eltern als Gastarbeiter rund um die Uhr arbeiteten. Und eine Kindheit in Dalmatien, heute Kroatien, wo sie dachte, dass alle Menschen Reisende seien, weil viele aus ihrem Dorf in alle möglichen Länder aufgebrochen waren.
Während ihre Eltern in Deutschland Geld verdienten, wuchs Marica bei ihrem Großvater auf. „Er war Glöckner, aber auch Koch bei den Partisanen und hat immer über den Priester geschimpft, weil der eine Freundin hatte.
e Freundin hatte.“ Bodrožić lacht überraschend kräftig für ihre zarte Statur. „Als Kind fand ich es wahnsinnig faszinierend, wie mein Großvater an der kleinen Kirche die Glocken geläutet hat, und manchmal, wenn die Sommerluft flimmerte, hatte ich das Gefühl, er hebt mit der Glocke ab, wird für einen Moment Teil der Luft. Er war einer dieser kleinen, dünnen Männer.“ Auch wenn sie heute nicht mehr Mitglied der katholischen Kirche ist – das Interesse an den „tiefen Erfahrungen der sakralen Räume“ ist geblieben.Nur ein Tisch und FotosMarica Bodrožić lässt sich mittels ihrer Mädchen- und Frauenfiguren gerne durch ihre Vergangenheit treiben. Sie schreibt sehr sinnlich über die Landschaften, Gerüche, Geräusche und Gesichter ihrer Kindheit und Jugend, über Heimatverlust, Erinnerungen und Gedächtnislücken, über Liebe, Distanz und die Ankunft in einem neuen Leben.Arjeta, die Heldin ihres neuen Romans Kirschholz und alte Gefühle lebt seit fünf Jahren in Berlin, aber erst die Wohnung, die sie soeben bezogen hat, wird ihr im Laufe des Buchs zur Heimat. Bisher steht nur der Kirschholztisch ihrer Großmutter darin, darauf ausgebreitet alte Fotos, die Arjeta in einem langen Gedankenfluss in die Vergangenheit tragen.Nach Paris, wo sie eine enge Freundschaft mit Hiromi und ihrer alten Freundin Nadeshda verband, wo sie Silva traf, die in die USA weiterzog, bevor Arjeta erfuhr, was ihr in der Heimat zugestoßen war. In Paris, der Stadt der Liebe und dem Sehnsuchtsort vieler Osteuropäer, war es auch, wo sie jahrelang in der zerstörerischen Liebe zu Arik gefangen war.Zwischendurch wandern Arjetas Gedanken in die Gegenwart oder zurück in „die belagerte Stadt“, wo sie aufwuchs und die sie kurz nach Kriegsausbruch verließ, weil sie sowieso in Paris studieren wollte. Die belagerte Stadt, in der ihre Zwillingsbrüder umkamen, wo ihr Vater starb und ihre Mutter über menschliche Gehirne gehen musste.Wie in TranceDass dieser Bewusstseinsstrom nicht langweilig wird, liegt weniger an den Charakteren, die in ihren Handlungen und im Umgang mit anderen Menschen eher blass sind. Arjetas Starre löst sich höchstens beim Anblick von Vögeln und Bäumen vor ihrem Fenster, beim Gedanken an die Sommer bei ihrer Großmutter in Istrien oder wenn Nadeshda mit ihrem kleinen Sohn zu Besuch kommt. Dass sie als Mensch wenig greifbar wird, liegt auch daran, dass Marica Bodrožić geheimnisvolle Momente liebt. „Momente, in denen wir auf einen Raum in uns zurückgreifen müssen, der die Schnittstelle ist zwischen der logischen, bewussten Welt und der Welt, die wir alle in einem wunderbaren Chaos auch in uns tragen.“Ihre Texte leben vom freien Umgang mit der Syntax, von Verknappungen und Neologismen, die einen ungewöhnlichen Ton ergeben; von Sätzen, die eine große Bandbreite an Emotionen und Assoziationen wecken und den Leser in einem tranceartigen Zustand durch das Buch tragen.Marica Bodrožićs Sprache ist sehr lyrisch, aber auch mal pathetisch und nostalgisch. In diesem Roman, der übrigens nach Das Gedächtnis der Libellen der zweite einer Trilogie ist, reiten „die Gedanken auf unzähmbaren Pferden davon“.Vor ein paar Jahren schrieb sie mit Sterne erben, Sterne färben eine Art Meditation über die Entdeckung der deutschen Sprache. Bevor sie mit neun Jahren nach Hessen kam, war Deutsch für sie die Sprache der Liebe. Als sie endlich zu ihren Eltern zog, wollte sie sofort alles lernen; aber natürlich gab es auch schwere Momente wie die, als sie auf dem Schulhof stand und kein Wort verstehen konnte. „Und zugleich hat es etwas in mir geweckt, was ich später in Paris wiederentdeckt habe: Ein anderes Verstehen, ein intuitives Erfassen von Körperbewegungen, von Gesichtsausdrücken, von einem Aufleuchten in einem Gesicht.“Bis heute ist dieses Interesse geblieben: wie sich Körper und Sprache und Sprachkörper zueinander verhalten.