Die Art und Weise, wie heute Wirtschaftswissenschaften betrieben werden, muss sich ändern – das ist keine neue Erkenntnis. Seit Jahrzehnten gilt die Ökonomik vielen als eine düstere Angelegenheit, eine Art Ersatzreligion. Kritiker werfen der neoklassischen Schule, die seit langem den Ton angibt, ihre vollauf unrealistischen Annahmen vor: stets rein zweckrational handelnde Individuen oder unendliches Wachstum auf einem endlichen Planeten. Die Neoklassiker nutzten diese Annahmen, um politische wie soziale Institutionen auf der ganzen Welt komplett umzukrempeln, nicht ohne darauf zu beharren, dass ihnen nichts ferner liegen könnte, als normative und politische Ziele zu verfolgen.
Geraten diese Mainstream-Ökonomen unter Druck, so zücken sie gern eine ganz spezielle Waffe, um jegliche Opposition zum Schweigen zu bringen: Mathematik. Als die beiden Ökonomen David Colander und Arjo Klamer Studierende ihres Fachs an US-Elite-Universitäten befragten, gaben 90 Prozent an, Mathe-Kenntnisse seien wichtig für ihre Karriere – Wissen über die Wirtschaft hielten dagegen 68 Prozent für unwichtig und nur drei Prozent für sehr wichtig. Mit anderen Worten: Wirtschaftswissenschaftler denken, sie müssten nicht wirklich etwas von Wirtschaft verstehen.
Und dann kam die Krise
Aber seit der großen Krise von 2008 wächst der Druck auf das herrschende Paradigma. Von Erstsemestern bis zur Königin von England stellen alle die gleiche Frage: Warum haben diese angeblich so cleveren neoklassischen Ökonomen die größte Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht kommen sehen? Als dann noch der ehemalige Chef der US-Notenbank Fed, Alan Greenspan, einräumte, dass sich die ihn leitende Ideologie als Irrtum entpuppt habe, wurde klar: Es reicht nicht aus, diese Ökonomen einfach an ihren Gleichungen herumtüfteln zu lassen. Nein, es muss sich etwas fundamental ändern.
Seit einem Jahrzehnt wächst die Graswurzel-Initiative, die genau das im Sinn hat: die Ökonomik zu ändern, sie zu öffnen. Anfang August hat sich die Bewegung in einer Tagungstätte im thüringischen Neudietendorf getroffen, wohin das im deutschsprachigen Raum aktive Netzwerk Plurale Ökonomik zur Sommerakademie eingeladen hatte. Studierende, Lehrende wie politische Verantwortungsträger tauschten Ideen aus, nahmen Anregungen auf, lernten voneinander.
Eine Woche lang lieferten sich rund 100 Teilnehmer aus 19 Ländern – ich war einer von ihnen – hitzige Debatten, besuchten Seminare und Vorlesungen, die sich um Komplexitäts- und feministische Ökonomik, Wirtschaftsphilosophie und um vieles andere drehten. Die Unternehmensforscherin Jana Gebauer etwa lud zu einer Veranstaltung, in der es um Firmen ging, die längst nicht mehr nur bloßes Wachstum als Ziel verfolgen. Jeden Tag widmeten sich selbstorganisierte Workshops zentralen Themenfeldern wie dem Finanzsystem oder der Umweltökonomik. Wirtschaftswissenschaftliche Debatten mit solch einem Enthusiasmus, so engagiert wie in Neudietendorf, habe ich in der Tat seit Jahren nicht mehr erlebt.
„Ich studiere VWL, aber an der Uni gibt es überhaupt keinen Rahmen, um über die reellen Probleme von heute zu diskutieren“, sagte mir Teilnehmerin Hannah Kircher. „Hier habe ich nicht nur solch einen Rahmen gefunden, sondern auch die Leute, um ihn zu füllen, um über all das zu reden.“ Und der Student Jonas Schulte meinte: „Wer sich mit der Euro-Krise beschäftigt, erkennt, dass diese ein Kampf zwischen neoklassischen Ökonomen und Vertretern anderer Schulen ist. Darum musste ich bei dieser Bewegung für plurale Ökonomik dabei sein. Nicht nur, um die Wirtschaftswissenschaften aufzumischen, sondern auch, weil ich Politik verändern will.“
In Neudietendorf gab der australische Ökonom Steve Keen – einer der wenigen, die in der Zeit vor 2008 vor einer Krise warnten – einen Workshop zum Post-Keynesianismus. Keen ist ein renommierter Vertreter seines Fachs, lässt aber kein gutes Haar an dessen Lehre und meint: „Studierende verlangen von ihren Hochschulen, dass diese ihnen Alternativen nahebringen. Aber es sind ja eben die Hochschulen, die Orthodoxie predigen und keinerlei Kritik zulassen. Wir müssen dieses Monopol der Neoklassik zerschlagen. Angeblich ist die neoklassische Schule gegen Monopole – in der akademischen Lehre aber setzt sie ihr eigenes durch.“ Keens Auffassung nach hinkt die Wissenschaft der Praxis weit hinterher: „Die Perspektiven für Absolventen auf dem Arbeitsmarkt, bei Zentralbanken oder am Finanzmarkt, sind mitunter besser für die, die nicht dem neoklassischen Dogma anhängen. Denn die Verantwortlichen haben längst verstanden, dass der Mainstream keine wirkliche Grundlage für ihre praktische Arbeit anzubieten hat.“
Die Sommerakademie in Thüringen war nicht auf eine bestimmte ökonomische Schule festgelegt, sondern ließ Raum für eine ganze Reihe von Paradigmen – jedes mit seiner eigenen Methodologie, seinen eigenen Annahmen und Schwerpunkten. Die Teilnehmer waren sich eben nicht einig in ihren Antworten, sondern vielmehr in den Fragen, die es zu stellen gilt und in der Offenheit und Bereitschaft, diese Fragen von ganz unterschiedlichen Blickwinkeln aus anzugehen. Mir selbst als Wirtschaftshistoriker scheint ein solcher Ansatz, der auf Pluralismus setzt, in der Tat der einzig sinnvolle zu sein.
Die Ökonomik ist so eng mit der Politik verflochten und die Eigenlogik politischer Prozesse hat schon unzählige Male vielversprechende wirtschaftswissenschaftliche Ideen vereinnahmt und verunstaltet, sodass dabei heterodoxe Konzepte, ja ganze Theorien vor die Hunde gegangen sind, weil politische Machtzentren nur mit ihnen umzugehen wussten, indem sie sie ihren Interessen gemäß verfälschten. Die wichtigste Aufgabe eines Ökonomen ist daher nicht, diese oder jene Theorie zu unterstützen, sondern Raum zu schaffen für historische Reflexion über wirtschaftliche Fragen, die sich nie erschöpft haben wird.
Etwas in dieser Art ist in Neudietendorf geschehen. Im Laufe einer Woche entstand eine kleine Gemeinschaft von Leuten, die sich in ihren Meinungen unterscheiden, die aber die gleichen Dinge umtreiben, vor allem die wachsende Ungleichheit und der Klimawandel. Dieser Gemeinschaft gelang es nicht nur, konstruktiv bei der Suche nach Lösungen zusammenzuarbeiten. Sie schuf dabei zugleich eine tolle Atmosphäre von Offenheit und gegenseitiger Achtsamkeit. „Man kann noch so viel planen und vorbereiten“, sagte Mitorganisator Simon Walch, „aber ich war völlig verblüfft, welch tolle Stimmung sich hier entwickelt hat und wie jede und jeder seinen Teil zum Gelingen des Ganzen beiträgt.“
Enthusiasmus, Melancholie
Walch nimmt von der Sommerakademie vor allem eine Erkenntnis mit nach Hause: „Mehr und mehr Leute realisieren, dass wir unser wirtschaftliches Denken fundamental ändern müssen. Wir hatten hier Vertreter von den Kirchen, vom Internationalen Währungsfonds und der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Einer von denen sagte mir, die Veranstaltung hier sei für ihn unheimlich belebend gewesen. Er versuche dort draußen ständig, andere Verantwortungsträger in politischen Organisationen zu überzeugen, dass sie sich öffnen und ihre Blickwinkel auf Wirtschaft weiten sollten. Letztendlich aber fühle er sich meist sehr allein. Bei der Akademie dabei zu sein, das habe ihn wieder darin bestärkt, dass er in der richtigen Richtung unterwegs ist. Denn hier hat er Leute getroffen, für die völlig außer Frage steht, dass sich sehr grundsätzlich etwas ändern muss.“
Gegen Ende der Woche machte sich in mir und inmitten all des Enthusiasmus, der neu gewonnenen Ideen und Freunde ein Gefühl von Erschöpfung nach all der harten Arbeit breit. Und auch etwas Melancholie, weil diese außerordentliche Veranstaltung nun schon wieder vorbei war. Doch die Studierende Susanna Bolz, die wie ich bei der Sommerakademie in Neudietendorf dabei gewesen war, traf es wohl besser, als sie eine Woche später in einer E-Mail schrieb: „Der letzte Tag dort fühlte sich nicht etwa wie ein Ende an, sondern vielmehr wie der Beginn von etwas.“
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