Es bleibt in der Familie

Streaming „Disney+“ ist nun auch in Deutschland empfangbar. Eine intellektuelle Überforderung muss niemand befürchten
Ausgabe 14/2020

Baby Yoda haut es raus. Wie süüüüüüß dieses 50-jährige Mäuschen (50 Jahre ist für Yodas unbekannte Spezies Säuglingsalter) in seinem fliegenden Kinderwagen dem Mandalorian hinterherschwebt und noch kaum etwas von seiner Jedi-Macht ahnt. The Mandalorian, eine Disney-Lucasfilm-Produktion, war die am sehnsüchtigsten erwartete Serie der letzten Jahre. Sie schenkt dem Star-Wars-Universum die erste Realfilm-Serien-Erzählung (nach den Kinofilmen und einigen Animationsreihen). Und lässt sich gut an: Der mysteriöse titelgebende Kopfgeldjäger gibt einen sehr filmaffinen Helden ab, denn Autor/Produzent Jon Favreau hat ihn so schweigsam konzipiert, dass die Serie allein darum gezwungen ist, in Bildern statt in Dialogen zu erzählen – etwas, wofür sich Star Wars mit seinen eskapistischen Szenerien wahrlich eignet.

Disney+, das neue Streamingportal des in Kalifornien ansässigen Multikonzerns, das seit November 2019 in den USA und seit dem 24. März auch in Deutschland zu empfangen ist, geht mit knapp 700 Produktionen an den Start. Sehr viele stammen aus dem Back-Katalog (vom Dschungelbuch über Die Schöne und das Biest in allen möglichen Versionen bis hin zur Serie High School Musical), der Rest generiert sich aus Produktionen der in den letzten Jahren von Disney gekauften Firmen Pixar, Lucasfilm, Marvel und National Geographic.

Der neue Sparringpartner unterscheidet sich dadurch gravierend von seinen Konkurrenten Netflix, Sky oder Amazon Prime: Deren Ansatz, möglichst unterschiedliche Zielgruppen zu erreichen, zeigt sich vor allem in einer relativen Vielfältigkeit – eine Serie wie One Mississippi auf Amazon Prime, die von der lakonischen Komikerin Tig Notaro geschrieben und von der feministischen Regisseurin Nicole Holofcener inszeniert wurde, behandelt Themen wie tödliche Krankheiten und Homosexualität. Netflix Deutschland versuchte von Anfang an, die US-amerikanische Serien-Vorherrschaft mit europäischen Produktionen (The Fall, Dark, Élite) anzureichern. Sky Deutschland stellt sich – in Ansätzen – ähnlich divers auf. Und sosehr die Produktionsbedingungen bei den großen Streaming-Playern vor allem wegen mangelnder Mitspracherechte oder unterdurchschnittlicher Honorierung kritisiert werden: Die Idee, dass ein Portal die Reichhaltigkeit der Medien abbilden soll, ähnlich wie das „Vollprogramm“ der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, deren Bildungsauftrag zwar Degeto-Filme zulässt, auf der anderen Seite aber auch kleine Fernsehspiele, uralte Klassiker und neue Formate bietet, ist überzeugend.

Konservativ wie Kinder

Und wird von Disney+ konsequent ignoriert: Disney+ sendet Disney-Content, Punktum, und lässt sich damit auf ein fragwürdiges Alleinstellungsmerkmal ein: Die Mickey-Mouse-Gründerväter senden für die klassische Disney-Zielgruppe: Familien, denen Trautes-Heim-Beispiele vorgesetzt werden, und Kinder, die in ihrer Filmauswahl altersgemäß konservativ sind. Denn verunsichernde Themen und Formate werden von einem kindlichen Publikum üblicherweise nicht abgefragt. Die Lust, sich herausfordern zu lassen, geht erst mit der durch Erfahrung gewachsenen Medienkompetenz einher.

Die auf Disney+ angebotenen Eigenproduktionen bestätigen diesen wertkonservativen Ansatz: In der „dokumentarischen“ Fernsehserie Disney’s Fairy Tale Weddings werden glückliche Paare begleitet, die ihre „Traumhochzeit“ in Disney-Resorts feiern – und die Werbeabsicht dahinter wird kein bisschen verschleiert. Die fiktionale Produktion Tagebuch einer zukünftigen Präsidentin über die Highschoolzeit eines Mädchens aus einer Latino-Familie präsentiert das übliche „Ich bleibe mir treu und gehe meinen Träumen nach“-Geseier, das selbstverständlich zum Traumziel führt. Niemand scheitert, niemand zweifelt, niemand wird nachhaltig zum Denken angeregt. Affirmation ist das Motto – und die wird minutiös auf die Zielgruppe hingeplant: In seinem Buch Babes in Tomorrowland. Walt Disney and the Making of the American Child wies der Autor und Lehrer Nicholas Sammond 2005 nach, dass die Idee „Schlechte Medien produzieren böse Kinder, also produzieren gute Medien gute“ von jeher ein Grundsatz der Disney-Politik ist.

Im Jahr 2009 erschien in der New York Times ein vielbeachteter Artikel über Disneys „kid whisperer“ Kelly Peña, eine von Disney angestellte Forscherin, die mit ihrem Team anderthalb Jahre lang recherchierte, was Jungen zwischen sechs und 14 Jahren sehen wollen, wie man sie „psychologisch“ knacken könne – die männlich-kindliche Zielgruppe war dem Konzern über zu viel Hannah Montana etwas aus dem Blickfeld geraten. Dabei werden für diese Gruppe jährlich 50 Milliarden Dollar für potenzielles Merchandising (Spielzeug, Kleidung) ausgegeben – das wollte Disney sich nicht entgehen lassen. Und schuf sogleich mit Filmreihen wie Fluch der Karibik Abhilfe – die sich hervorragend auf T-Shirts verticken lässt.

Disney+ betreibt also umfangreiche Zielgruppen-Monopolisierung. Zudem kann der Konzern die monatlichen Abonnement-Kosten durch die Zweitverwertung der eigenen ollen Kamellen gering halten: Bei einem zeitlich begrenzten Spezialangebot von 60 Euro kostet das neue Abo im Jahr momentan weniger als das der meisten anderen Anbieter.

Mit konkreten Zuschauer*innen-Zahlen ist der Konzern noch etwas vorsichtig – im Januar wurde jedoch berichtet, dass die Disney+-App nach zwei Monaten auf dem US-Markt bereits 41 Millionen Mal heruntergeladen worden war. Und im Februar gab der CEO von Disney bekannt, dass man sich in den USA inzwischen über 28,6 Millionen Abonnent*innen freue – angepeilt sind laut Los Angeles Times zwischen 60 und 90 Millionen im Jahr 2024. Das könnte mit weiteren „Rollouts“, also Angeboten in noch mehr Ländern, klappen beziehungsweise noch übertroffen werden – die vom medizinisch angeordneten Stubenarrest hochschnellenden Zahlen wird man erst am hoffentlich irgendwann absehbaren Ende der Corona-Krise betrachten können. Zum Vergleich: Netflix wurde Ende 2019 von weltweit ungefähr 167 Millionen Menschen gestreamt.

Disney+ ist also dort angekommen, wo Walt Disney sich immer am wohlsten fühlte: in der Keimzelle der Gesellschaft. Inwiefern Disneys konservative bis reaktionäre Weltanschauung dort wirken kann, bleibt wie immer jedem und jeder selbst überlassen.

Aber man sollte sich und seiner Familie zwischendurch unbedingt mal ein paar dystopische und kaputte Ideen in den Kopf fliegen lassen. Denn der Erfolgszug Disneys hat eines gezeigt: Das bloße Behaupten einer heilen Welt kann die Realität nicht reparieren.

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