Recht auf Vergessen Im Fall der grünen Politikerin Sarah-Lee Heinrich plädiert unsere „steifhüftige“ Autorin für eine gesetzliche Regelung. Wie könnte die aussehen?
Als Teenie geriet ich in den 1980er Jahren einst in einen Streit mit einem Lehrer. Unsere Aufgabe in einem der sogenannten Laberfächer lautete, für oder gegen die Todesstrafe zu argumentieren. Ich war dafür, in besonders schweren Fällen, wie ich altklug anfügte. Der Lehrer versuchte mir zu erklären, wieso meine Haltung problematisch war, aber ich verstand ihn nicht, oder ich wollte ihn nicht verstehen. Ich argumentierte aus reiner, emotional empfundener, pubertätshormongefeuerter Empörung.
Diese von mangelnden ethischen und menschenrechtlichen Überlegungen zeugende juvenile Meinung ist mir heute rechtschaffen peinlich. Doch glücklicherweise bin ich nicht Politikerin geworden. Und glücklicherweise sind die vielen Unreflektiertheiten mein
eiten meines jugendlichen Selbst perdu, anstatt für immer in einem Social-Media-Universum herumzuschwirren, in dem sich auch politische Gegner:innen bedienen. Denn ich war damals, so viel steht fest, teilweise echt dämlich. (Sogar in noch mehr Dingen als heute.)Der Fall der 20-jährigen Grünenpolitikerin Sarah-Lee Heinrich hat – neben den notwendigen Debatten um Social-Media-Instrumentalisierung als rechtes Kampfmittel und darum, ob Heinrichs sieben Jahre alte Tweets als „Kindersünden“ vergeben werden können – einen weiteren Diskussionsraum geöffnet: Wie mündig dürfen Teenies, dürfen Kinder sein? Sollen Kinder wirklich „an die Macht“, weil es dann statt Unterdrückung, wie Grönemeyer singt, „Erdbeereis auf Lebenszeit“ gibt? Oder aber, weil sie viel mehr als die Alten bereit sind, für ihre Zukunft zu kämpfen – und zwar nicht nur freitags?Die große GreisenlobbyNach der UN-Kinderrechtskonvention gelten Menschen unter 18 Jahren als Kinder. Sie haben sämtliche Menschenrechte, müssen zum Beispiel vor Diskriminierung genauso geschützt werden wie vor Schädigungen durch Medien, durch Misshandlungen oder Vernachlässigungen. Laut Artikel 12 dieses Vertrags ist man darüber hinaus verpflichtet, ihre Einstellungen zu achten: „Kinder haben das Recht, in allen Angelegenheiten, die sie betreffen, unmittelbar oder durch einen Vertreter gehört zu werden. Die Meinung des Kindes muss angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife berücksichtigt werden.“Die Psychologin und Pädagogik-Professorin Sabine Walper sprach sich in ihrer Funktion als neue Vorsitzende des Deutschen Jugendinstituts kürzlich für ein Kinderwahlrecht aus: Um zu vermeiden, dass ältere Menschen durch ihre Wahlmöglichkeiten die Zukunft der Jüngeren zu sehr beeinflussen, solle man Kinder von Geburt an wählen lassen. Walper sieht dies als Möglichkeit, der gesellschaftlichen Überalterung entgegenzutreten: Weil es immer mehr Alte und immer weniger Junge gibt, bestünde die Gefahr, dass die Alten nur noch ihre eigenen, vielleicht nicht mehr ganz zukunftsorientierten Interessen verträten.Die Greisenlobby ist groß, die der Kinder kann dagegen nur durch die Eltern repräsentiert werden. Dass in diesem Denkmodell de facto dann auch die Eltern stellvertretend für den Nachwuchs die Kreuzchen machen sollten, versteht sich von selbst. Inwiefern sich die politische Haltung einer Erwachsenen vom „Standpunkt“ ihrer zweijährigen Tochter unterscheiden könnte, müsste man demzufolge noch untersuchen: Schwer vorstellbar, dass jemand schizophren genug denkt und für seine Kinder eine andere Partei wählt als für sich selbst. Die Kinderstimmen kämen demnach nur als quantitative Korrektur ins Spiel. Und mehrfache Eltern hätten automatisch mehr Gewicht als kinderlose Erwachsene – was sich kaum mit den Antidiskriminierungsgesetzen vereinbaren ließe.Aber inwiefern könnte, sollte und dürfte man Kindern und Teenies überhaupt Verantwortung übertragen? Und wann muss man befürchten, dass sie überfordert sind? Im Jugendmedienschutz, der sich nach den Vorgaben des Jugendschutzgesetzes richtet und unter anderem durch die dem Familienministerium nachgestellte Bundesoberbehörde Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz und verschiedene Einrichtungen der freiwilligen Selbstkontrolle (etwa FSK, FSF) kontrolliert wird, geht man von unterschiedlicher Medienkompetenz in verschiedenen Altersstufen aus: Das Bild eines gickernden, animierten Totenkopfes, das einen Fünfjährigen verstören könnte, wird eine 13-Jährige vermutlich kaum hinter dem Handy hervorlocken. Andersherum schickt ein Fünfjähriger garantiert seltener problematische Inhalte ins Netz als der gedankenlose 13-Jährige, der in einem Tweet jemanden mit dem Wort „schwul“ zu beleidigen sucht.Neben dem Schutz der Kinder und Jugendlichen vor diskriminierenden, schädlichen, desorientierenden oder ängstigenden Social-Media-Inhalten bedeutet Medienkompetenz für diese Gruppe also auch, die eigenen Botschaften zu überprüfen und andere davor zu schützen. Denn inzwischen wird vermutlich fast ebenso viel Content erstellt und ins Netz geballert wie aufgenommen. Und im Gegensatz zu klassischen, linearen Massenmedien funktionieren soziale Medien interaktiv – so ziemlich jede:r, der oder die Medien aufnimmt, generiert auch Inhalte. Und diese Inhalte müssen, sofern sie wirklich von Kindern und Jugendlichen stammen, anders behandelt werden als Äußerungen von Menschen über 18. Es ist schließlich das Vorrecht der Jugend, dummes Zeug zu faseln – genauso wie es das Vorrecht der Jugend ist, sich scheußlich anzuziehen. Wenn Kinder und Jugendliche aus gutem Grund strafrechtlich noch nicht mit der gesamten Härte des Gesetzes rechnen müssen, sollten ihnen ihre Äußerungen auch nicht ewig von der Presse vorgehalten werden können: Dass Sarah-Lee Heinrich nicht ihr ganzes, möglicherweise politisches Leben lang in den Medien in einem Atemzug mit ihren idiotischen Tweets genannt werden dürfte, müsste genauso gesetzlich geregelt werden, wie es das im Falle der Verjährung von Straftaten und deren Berichterstattung darüber ist. Für Kinder und Teens sollte also gewissermaßen Welpenschutz gelten.Doch was, wenn die Welpen nicht mehr geschützt werden wollen, zumindest nicht durch Ignoranz ihrer Postulate? Denn Bewegungen wie Fridays for Future, die mit Nachdruck, Eifer und Effektivität auf die Rettung der Welt pochen, wollen und müssen ernst genommen, ihre Äußerungen gehört, ihre Forderungen erfüllt werden. Es mag ein speziell mit der Klima-Ikone Greta Thunberg verbundenes Phänomen sein, dass ein Clip, in dem die Schwedin bei einem von Klimaschützer:innen organisierten Konzert am letzten Samstag in Stockholm den Uraltsong Never gonna give you up von Rick Astley anstimmte, ebenso viel virale Aufmerksamkeit auf sich zog wie eine leidenschaftliche Rede der Aktivistin vor dem UN-Klimagipfel drei Jahre zuvor. Erwachsene, die die 1980er miterlebt haben, kichern übrigens bei dem Internet-Runnig-Gag „Rickrolling“ immer peinlich berührt, wenn in zufälligen Netz-Diskussionen seit 2007 immer wieder ein „Fake Link“ auftaucht, über den man zum 1987 entstandenen Video des britischen Sängers gerät, der sich den unerwarteten zweiten Fame vermutlich auch nie hätte träumen lassen. Das Video hat mittlerweile über eine Milliarde und 71 Millionen Aufrufe.Eine „erwachsenere“ Stimme aus der Politik hätte diesen Effekt nicht erreicht, selbst wenn sie Rick Astley wohlklingender gecovert hätte: Greta hat sich mit dem Rickrolling-Song eindeutig und unter dem Jubel des Publikums als Kind ihrer Zeit positioniert.Bilden, schützen, beteiligenWährenddessen wird der Ruf lauter, 16- und 17-Jährige auf Landtagsebene an die Wahlurnen zu lassen: Neben Bremen, Hamburg, Brandenburg und Schleswig-Holstein, wo Jugendliche bereits seit einigen Jahren die Besetzung der Abgeordnetenhäuser mitbestimmen dürfen, macht sich momentan auch der rot-grün-rote Senat in Berlin für die Herabsetzung des Wahlalters stark – wohl wissend, dass Jüngere eher links wählen als die konservativeren Alten.Die Aufgabe unserer Gesellschaft mit all ihren Erziehungsclustern (Eltern, Lehrer:innen, medienpädagogische Angebote) ist es demnach, unsere Söhne und Töchter, Umweltaktivist:innen und potenziellen Wähler:innen, Kinder und Teens einerseits politisch und medial zu bilden, sie zu schützen, vor fremden Inhalten genauso wie vor unüberlegten eigenen. Sie aber andererseits zu ermutigen, sie ernst zu nehmen und vor allem: zu beteiligen! Das ist ein für steifhüftige Erwachsene zuweilen schwer zu bewältigender Spagat. Aber etwas anderes hat nie jemand behauptet.