„Flee“ erzählt in animierten Bildern von der Flucht aus Afghanistan. Geht das?

Animation Jonas Poher Rasmussen dokumentiert in seinem oscarnominierten Film „Flee“ mit Hilfe von Animation den alltäglichen Schrecken des Fliehenmüssens
Ausgabe 21/2022

Es ist das absolute Gegenteil einer Vergnügungsfahrt. Und dennoch hören Amin und ein fremder junger Mann Roxettes Hit Joyride von 1991. Der glückliche Popsong säuselt aus Walkman-Kopfhörern, die die beiden sich teilen, während sie auf der Ladefläche im dunklen Lastwagen eines Schleusers aus Russland hinausgeschmuggelt werden sollen.

Diese düstere „Vergnügungsfahrt“ ins Ungewisse ist bereits der zweite Versuch des Teenagers Amin, über Russland aus Afghanistan zu fliehen. Man schreibt die 1990er Jahre nach dem Abzug der sowjetischen Truppen. Nachdem Amins Vater von den Taliban verschleppt wurde und die älteren Brüder in den Kriegsdienst gezwungen werden sollen, entschließt sich Amins Mutter zur Flucht – der ehemalige Besatzer Russland ist der einzige Staat, der Visa für die Familie ausstellt.

Bevor es Amin jedoch aus dem postkommunistischen Land hinaus und auf den Weg zu einem älteren Bruder in Skandinavien schafft, passiert viel Schreckliches. Und weil in den seltensten Fällen reale Bilder von einer lebensgefährlichen Flucht vorhanden sind, hat sich ein Freund Amins, der dänische Regisseur Jonas Poher Rasmussen, für einen Animationsfilm entschieden, um die Erinnerungen seines Schulkameraden als dokumentarische Geschichte zu erzählen.

Das Reale animiert

Die in einem reduzierten Stil gezeichneten und sanft animierten Bilder von Flee, der bei der Oscarverleihung gleich in drei Hauptrubriken („Bester Dokumentarfilm“, „Bester Animationsfilm“ und „Bester Internationaler Film“) nominiert war, aber nicht ausgezeichnet wurde, schaffen damit einerseits eine spannungsvolle Distanz: Es lässt sich viel in die Gesichter von Amin und seinen Weggefährt:innen hineinlesen. Die Gefühle, die Angst, die Unsicherheit und vor allem das große, tiefgehende, durch die Flucht evozierte Trauma dagegen springen einen aus der angedeuteten Physiognomie regelrecht an. Als ob das Fehlen von „realen“, erkennbaren Gesichtsmerkmalen die menschlichen Sentimente noch unterstreichen, sie purer und direkter nachvollziehbar machen würde.

Dabei erzählt Rasmussen, dessen Stimme man genau wie die des Protagonisten in der Originalversion hören kann, nicht nur von einer äußeren, geografischen Reise: Der Umgang mit seiner Homosexualität, versinnbildlicht durch schmachtende Blicke auf ein Poster des halbnackten Muskeltraums Jean-Claude Van Damme an der afghanischen Kinderzimmertür, und Amins Vorliebe für die Nachthemden seiner Schwestern, erweisen sich als weitere Aufgabe für den jungen Mann. „Ich brauche Medikamente, weil ich Männer mag“, sagt er irgendwann – da ist er bereits in einem (bis auf weiteres) sicheren Land angekommen – zu einer Betreuerin.

Die furchtbaren Situationen, denen Amin (wie vorher bereits seine Schwestern) auf der Flucht ausgesetzt ist, wirken dabei anrührender als die in so manchen auf Emotionalität setzenden Spielfilmen: Es ist herzzerreißend, wenn auf dem nächtlichen Weg durch die Kälte Russlands ein kleiner Junge seine blinkenden Turnschuhe nicht ausziehen mag. Sie sind zu auffällig, raunzt einer der russischen Schlepper und droht, Mutter und Kind im Wald zurückzulassen. Schließlich bietet einer der afghanischen Männer an, das Kind zu tragen. Sein Weinen könnte die Gruppe jedoch wiederum in Gefahr bringen.

Der Endpunkt der Wanderung ist ein ungeheizter Schiffsbauch, in dem die Gruppe verängstigter Afghan:innen erneut für viel Schleusergeld nach Schweden reisen soll. Später, als der schlecht ausgerüstete Kahn zu sinken droht, wird Amin mit dem unlösbaren Dilemma konfrontiert, bei einem Schiffsunglück nicht alle Mitglieder seiner Familie retten zu können. Aber wen würde man ertrinken lassen?

Eine ungerechte Welt

Und auch wenn manche Szenen das Drama der ungerechten Welt künstlerisch allzu stark ausmalen, etwa wenn das ramponierte Flüchtlingsboot mitten auf dem Wasser auf ein überdimensioniertes Kreuzfahrtschiff stößt und die Menschen darauf nur stoisch ihre Fotoapparate zücken, um die Geflüchteten abzulichten: Die (eventuell im Filter von Amins Erinnerung doch auch leicht verfälschte) Ignoranz und Inhumanität der fotografierenden Luxuspassagiere steht zu Recht sinnbildlich für die Ignoranz der westlichen Staaten gegenüber dem Schicksal vieler Geflüchteter – vor allem jener, deren kultureller und spiritueller Hintergrund sich von dem der Helfenden unterscheidet.

Auf den Boden der Tatsachen stößt einen der Regisseur zudem immer wieder mit dem Einsatz von Realbildern: Subtil eingestreute Städtetotalen aus Kabul, Moskau und New York und Originalbilder aus der Zeit, sogar von den furchtbaren Erfahrungen von Amins Schwestern, die durch die Nachrichten gingen, machen klar, wie echt die Schicksale von geflüchteten Menschen sind – selbst wenn sie als Animationsfilm im wahrsten Wortsinn nach- und damit aufgezeichnet werden.

Flee zeigt auf nahbare, simple Weise die Komplexität der Probleme, mit denen Geflüchtete in den meisten Fällen konfrontiert werden: Es ist einiges mehr als „nur“ die Entwurzelung, die Angst und das Auseinanderreißen der Familie, was Amin noch lange zu schaffen macht. Er leidet darüber hinaus an einem lang währenden Gewissenskonflikt. Denn die Schleuser bläuten ihm als Teenager ein, die Existenz seiner Familie zu verleugnen, um nicht zurückgeschickt zu werden: „Du hast keine Familie“, sagten sie zu ihm. Mit dieser Lüge lebte der inzwischen als Wissenschaftler in renommierten, internationalen Zusammenhängen arbeitende und forschende Amin so lange, dass sie ihm zur schmerzhaften zweiten Natur wurde. Sie beeinflusst seine aktuellen Beziehungen noch immer. Der Name im Film ist ein Pseudonym. Flucht und die Ursachen dafür zerstören, das wird im Film deutlich, Menschen auf vielen verschiedenen Ebenen. Die körperliche ist nur eine davon.

Info

Flee Jonas Poher Rasmussen Dänemark/Frankreich 2021, 99 Minuten, am 30. Mai auf Arte und in der Mediathek

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Wissen, wie sich die Welt verändert. Abonnieren Sie den Freitag jetzt zum Probepreis und erhalten Sie den Roman “Eigentum” von Bestseller-Autor Wolf Haas als Geschenk dazu.

Gedruckt

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt sichern

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden