Bei Bier hat man es leicht. Wurde es nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraut, dann ist es gut. Es mag unterschiedlich schmecken, weil Bierbäuche und ihre Besitzer*innen unterschiedliche Geschmäcker haben. Doch die Qualität, darauf kann man sich in trauter Einigkeit zuprosten, die ist tadellos.
Bei Fernsehinhalten hat man es dagegen schwer. Für die Qualität eines Films, einer Nachrichtensendung, eines Unterhaltungsformats, mithin die Qualität eines Kulturprodukts, gibt es keine Reinheitsgebote, keine festgelegten Kriterien, es gibt nur Hinweise. Der Geschmack der Konsument*innen ist ein Hinweis – aber sagt die hohe Quote beim Dschungelcamp, beim Fußball-Endspiel, beim Münster-Tatort und der Free-TV-Premiere von Til Schweigers Honig im Kopf tatsächlich irgendetwas über die Qualität der Produktionen oder des Fußballspiels aus? Können 1.000 Fliegen sich nicht irren? Ist Quantität gleich Qualität?
(Fernseh-)Preise jedenfalls bekommen oft jene Werke verliehen, die nur wenige gesehen haben. Was nicht immer so war: 1964 wurde der erste Grimme-Preis an eine Folge der NS-Doku-Serie Das Dritte Reich verliehen – die 14-teilige Reihe erreichte in einer Zeit, in der die Aufarbeitung der nahen, finsteren Vergangenheit gewiss eine andere Priorität hatte, durchschnittlich 58 Prozent der Zuschauer*innen. Überwältigende 37 Prozent der Deutschen schauten 1970 den Grimme-Preis-Gewinner Der Attentäter über Georg Elser. Der erste Teil der mehrfach ausgezeichneten Trilogie über die Morde des NSU Mitten in Deutschland wurde 2016 dagegen von etwas über neun Prozent des Publikums eingeschaltet. Familie Lotzmann auf den Barrikaden von Axel Ranisch, einer der diesjährigen Preisträger, versteckte die ARD im August letzten Jahres – wie bei eigenwilligen Filmen üblich – im Spätabend und verhalf ihm damit janusköpfig zu mickrigen 3,1 Prozent. Falls man das reliktartige Quotenzählen im linearen Fernsehbetrieb überhaupt noch ernst nimmt. Und unter der Prämisse, dass es nicht die Qualität der Produktionen ist, die sich verändert hat – sondern Situation, Voraussetzung und Aufmerksamkeit der Konsument*innen.
Seltsam vage Kriterien
Dass das Grimme-Institut jetzt in der Deutschen Kinemathek in Berlin ein Archiv eröffnet, in dem alle verfügbaren Produktionen frei zugänglich sind, die in den letzten 55 Preis-Jahren ausgezeichnet wurden, ist somit folgerichtig – und neben dem Komplimentieren des aktuellen Contents auch ein Blick zurück auf die gute alte Zeit, als das „Qualitätsfernsehen“ zur kollektiven Abendunterhaltung gehörte, anstatt im Museum gefunden werden zu müssen. Bei der Eröffnungsveranstaltung an diesem Donnerstag diskutieren nach dem Screening von Hermine Huntgeburths Fernsehfilm Romeo (2002) denn auch die Regisseurin, Hauptdarstellerin Martina Gedeck, der Deutschland-83-Produzent Jörg Winger und der Grimme-Juror Christian Buss exemplarisch die Frage „War früher einfach alles besser, oder steckt der Fernsehfilm in der Krise?“.
Es ist schon ein Kreuz mit der Qualität – und mit dem Qualitätsfernsehen. Der Kommunikationswissenschaftler Neil Postman wusste das bereits 1985 und warnte in Wir amüsieren uns zu Tode vor „surrealistischen Fernsehinformationen“ und der „Gefährdung der Urteilsbildung der Bürger“ durch das Fernsehen. Aber gibt es genau dafür nicht die „Qualitätshüter“ oder „Qualitätswächter“, wie Juror*innen von Fernsehpreisen wie dem Grimme-Preis meist mit leicht süffisantem Unterton genannt werden? Einem Unterton, der zwei Tatsachen geschuldet ist: 1. Weil die Urteilskriterien seltsam vage erscheinen, könnte es doch auch sein, dass die Kritiker*innen einen komischen, ja vielleicht sogar schlichtweg den falschen Geschmack haben. 2. Weil das lineare Fernsehen in einer altbackenen, sich an eine diffus-allumfassende Zielgruppe richtenden Programmstruktur stattfindet, von der es seit den 50er Jahren nur in Babyschrittchen abweicht, ist die Qualität eventuell ebenso passé wie die Modernität des Mediums. Kämpft es doch eh nur noch müde gegen die Allgegenwärtigkeit, unmoralische Unverfrorenheit, perverse Attraktivität und menschenverachtende Boshaftigkeit von Fake News.
Oder gibt es doch verlässliche Kriterien? Der Kulturwissenschaftler Rainer Stollmann sprach schon 2002 bei einem Kongress zu Quality on Television davon, dass sich „Qualitätsfernsehen mit den langfristigen Interessen des Zuschauers“ zu verbünden habe. Diese unterscheidet er von den „kurzfristigen Interessen“, zu welchen seiner Ansicht nach Entspannung nach Feierabend und Unterhaltung durch unproblematische, leicht zu durchschauende Geschichten gehören. Er diagnostizierte dem beschworenen Qualitätsfernsehen weiterhin das Problem, dass „fast alle glauben, so etwas sei unmöglich“.
Fast alle. Die unabhängigen Juror*innen von Preisen für Qualitätsfernsehen selbstredend nicht. Die müssen sich trotzig eigene Kriterien basteln, in einem Mix aus Werdegang und Ausbildung – nicht wenige haben dramaturgische, fiktionale oder investigative journalistische Erfahrungen –, aus dem „Relevanz“-Begriff, der aktuelle, brisante, politische Themen gegenüber Historischem oder einfach Schönem, Kontemplativem bevorzugt, und dem Versuch, bei jeder Produktion auf die Arbeit wirklich jedes Gewerks zu achten. Welche Gewichtung ein*e Juror*in allerdings danach bei der Beurteilung vornimmt, muss wieder subjektiv sein. Und „brisant“ und „relevant“ sind eben auch nur schwammige Adjektive. Die – immerhin! – nach dem gemeinsamen Sichten einer Produktion definiert und mit Inhalt gefüllt werden können – bei den juryfreien Preisen wie etwa dem Deutschen oder dem US-Filmpreis ist nicht mal das vollständige Sichten aller Werke garantiert. Bei der Jagd auf Likes ebenfalls nicht – die Diskurse auf Social-Media-Plattformen sind schneller off-topic, als man „Shitstorm“ sagen kann.
Putzen, putzen, putzen
Wenn das Grimme-Institut also den musealen Archiv-Zusammenhang sucht, dann beschwört es einerseits das nicht klar definierbare, aber dennoch wichtige Qualitätsfernsehen und klopft sich selbst für seine Leistung auf die Schulter – und öffnet andererseits die Möglichkeit für den nötigen Diskurs. Welche Kriterien die Sat1-Produktion Catch – Die deutsche Meisterschaft im Fangen erfüllt, der Grimme-Preisträger 2019 in der Rubrik „Unterhaltung“ und eine Spielshow, bei der verschiedenfarbig gekleidete Teams sich mit heraushängender Zunge durch das Studio jagen, bis einer den anderen „gepackt“ hat, darüber kann man gut diskutieren: „Fangen“ ist ein Spiel, das mindestens seit dem Mittelalter bekannt ist und für dessen Ausführung man circa sieben Gehirnzellen braucht. Ebendarum besteht die Leistung darin, das Spiel so zu präsentieren, dass Menschen es sich 2019 freiwillig im Fernsehen anschauen – und sich dabei amüsieren, ohne dass jemand lächerlich gemacht wird. (Die Statuten des über 50 Jahre alten Preises verlangen es, die „spezifischen Möglichkeiten des Fernsehens auf hervorragende Art und Weise zu nutzen, weiterzuentwickeln und nach Form und Inhalt Vorbild für die Fernsehpraxis in der digitalen Welt“ sein zu können. Zumindest den ersten Teil erfüllt das Fangen 2.0 spitzenmäßig.) Zudem bietet die Archivierung der Produktionen die Möglichkeit, sich mit diesen Kriterien selbst auseinanderzusetzen – auch und gerade, wenn man dem Urteil einer Preisjury absolut nicht zustimmt. Kulturkritik, und dazu darf man die Fernsehkritik und die „Qualitätshüter“ zählen, besteht darin, sich zu einer Sache zu stellen, eine Haltung zu entwickeln, diese zu begründen und zu erklären. Gäbe es sie nicht, dann müsste man sich auf die Eigenauskünfte sämtlicher Produkte verlassen. Und hätte demzufolge nichts außer affirmativer Schwärmerei.
Nicht zuletzt sind die Preise auch dafür da, zu offenbaren und sichtbar zu machen, was eine Schnittmenge der Zuschauer*innen – denn auch „Fachjurys“ bestehen aus Zuschauer*innen – unter Qualität versteht. Deutlich wird das in Sachen Fernsehen bei Produktionen wie dem Tatortreiniger. In der nach klassischer Fallstruktur aufgebauten NDR-Serie sollte Bjarne Mädel als „Schotty“ zunächst nur eine Staffel lang philosophisch-fleißig Blut- und Gewebereste wegputzen und dabei jedes Mal in eine andere, fremde Welt tauchen. Nachdem die Serie mehrfach nominiert und ausgezeichnet wurde, konnte sie dank der medialen Aufmerksamkeit, die mit dem ersten Preis einherging, weitere großartige Staffeln produzieren.
Beim Nachrichten- und Politik-Content ist die „Qualitätssicherung“, das Eruieren des Qualitätsbegriffs, nicht einfacher als bei den fiktionalen Formaten oder den Unterhaltungsshows, auch wenn auf den ersten Blick mehr Kriterien festzustehen scheinen: Weitestmögliche, objektive Berichterstattung nach einem akzeptierten Relevanz-Ranking, das bieten zwar gerade die öffentlich-rechtlichen Nachrichten ohnehin. Doch welche journalistischen Leistungen gehen über dieses Niveau hinaus? Und wie kann man eine Langzeitrecherche des „embedded journalism“ inklusive Gefahr für Leib und Seele mit Kulturberichterstattung aus Cannes oder einem Europawahl-Beitrag vergleichen? Dennoch gehört all das in die Nachrichtenformate und Politikmagazine hinein. Es ist darum dann doch oft wieder die „Haltung“, die den komplexen Qualitätsbegriff mitdefiniert: In der Jurybegründung für den Grimme-Preis der „Besonderen Journalistischen Leistung“ an Isabel Schayani stand in diesem Jahr, dass die Journalistin einfordere, „sich eine Meinung zu bilden, Haltung zu zeigen“.
Womit der Begriff Qualitätsfernsehen (vielfältiger Content, vielfältige Form) also immer noch punkten kann, was ihn gegenüber den strikten Bierregeln (nur Hopfen, Malz, Hefe und Wasser) auszeichnet, ist seine Offenheit: Weil Qualität kein fester, sondern ein fluider Begriff ist, darf und soll man darüber diskutieren. Qualitätsfernsehen gehört ins Museum. Aber nur, um dort besser und für alle zugänglich zu sein.
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