Schlimmer? Immer

Martyrium „Ayka“ ist Arbeitsmigrantin in Moskau. Regisseur Sergei Dvortsevoy quält sie nach Kräften
Ausgabe 16/2019

Die gepuckten Säuglinge, die im ersten Bild des Films Ayka durch die Gänge einer Moskauer Geburtsklinik geschoben werden, ahnen nichts von der Kälte der Welt. Und von der Not der darin Lebenden: Die 25-jährige Kirgisin Ayka (Samal Jesljamowa) hat in der Klinik soeben entbunden. Kurz darauf springt sie aus dem Toilettenfenster in den klirrenden Winter und lässt ihr Neugeborenes zurück. Während Räumfahrzeuge erfolglos Schneemassen verschieben, hetzt Ayka zu ihrem Job in der Hühnerverarbeitungsfabrik. Und muss dort feststellen, dass sie gemeinsam mit den anderen Schwarzarbeiterinnen betrogen wurde – statt des versprochenen Lohns gibt es nur ein gerupftes Huhn, der Arbeitgeber macht sich aus dem Staub. Was Aykas hoffnungsloser Situation ein weiteres Problem hinzufügt: Wie soll die illegale Arbeitsmigrantin nun das Geld auftreiben, das sie sich von einem Schlepper geliehen hatte?

Keine Schonung für die Titelheldin: Regisseur Sergei Dvortsevoy jagt seine Protagonistin wie ein hungriger russischer Wolf seine Beute. Vom feindseligen „Draußen“ mit seiner bitteren Kälte, dem Straßenlärm, der Ungastlichkeit, taumelt die angeschlagene Ayka in verschiedene, ebenso hoffnungslose „Drinnen“, versucht, in der überfüllten illegalen Flüchtlingswohnung zwischen Gerüchen, Geräuschen und notdürftig aufgehängten Trennvorhängen ihre Nachblutungen zu stillen, bettelt um Jobs, bedroht Konkurrentinnen, greift nach jedem Hoffnungsschimmer – und fällt doch wieder in sich zusammen. Dvortsevoys Moskau ist ein Moloch, der an der scharfen, unüberbrückbaren Kluft zwischen Arm und Reich, Aufsteigern und Illegalen, Sowjetmenschen und Megakapitalisten zu zerbersten droht – und dennoch, wie jede Großstadt, immer wieder die Mär vom „Es-schaffen-Können“ vor sich herträgt. Solidarität, Mitleid, Menschlichkeit, das zeigt Dvortsevoy deutlich, gibt es nur bei denen, die tatsächlich verstehen, was es heißt, nichts zu haben: Als Ayka durch einen Zufall an eine Putzfrau in einer Tierklinik gerät, wird ihr das erste freundliche Wort, die erste heiße Tasse Tee zuteil – die Putzfrau ist ebenfalls Kirgisin, hat ein krankes Kind und fühlt Aykas seelische und körperliche Not, ohne dass viel kommuniziert werden muss.

Sie duckt sich aus dem Bild

Dvortsevoy visualisiert die Pein seiner Protagonistin radikal. Die Kamera, die Ayka im Nacken sitzt, sie zu bedrängen, fast zu peitschen scheint, macht deutlich, wie unsichtbar Ayka als Illegale für die anderen bleibt – sie duckt sich aus dem Bild, und man übersieht sie. Er setzt zudem immer wieder das Thema Geburt in Szene, das den Film wie ein Leitmotiv durchzieht: Kurz nachdem Ayka das eigene Kind in die Welt gedrückt hat, drückt sie sich selbst durch das Fenster in eine noch grässlichere. Den Hühnerkörper, den Ayka ausnehmen muss, während ihr eigenes Inneres noch wütet, die blutenden Hunde, die in der Tierklinik behandelt werden, das gierige Saugen einiger piepsender, neugeborener Welpen, während Ayka ihre schmerzende Mastitis ignoriert und am Fieber fast zugrunde geht – Dvortsevoys starke Symbolik kommt dennoch beiläufig, nicht aufgezwungen daher, sie wird von Ayka und dem Publikum wahrgenommen, weil man längst ihre Sicht und ihre Partei ergriffen hat. Wenig Hinweise streut Dvortsevoy auf Aykas Vorgeschichte – es gab große Pläne, das geliehene Geld war für eine eigene Schneiderei gedacht, vielleicht gab es sogar einst eine Beziehung –, Ayka wird den Vater des Kindes zwar später verleumden, aber die Situation ist nicht eindeutig.

Es scheint, als habe Dvortsevoy der klassischen Heldenreise, die der Hauptperson üblicherweise eine bestimmte Anzahl Stolpersteine in den Weg legt (mindestens einen vor jedem Wendepunkt), einfach noch eine Ladung Steine hinzugefügt. Egal was Ayka versucht, sie ist verdammt, denn das Leben ist verdammt ungerecht. Die kasachische Schauspielerin Samal Jesljamowa, die bereits in Dvortsevoys atmosphärisch leichterem Debüt Tulpan zu sehen war, erarbeitet die Qualen ihrer Rolle überzeugend. Das wie ein auditives Menetekel durch die Geschichte schrillende Handyklingeln, das in höhnischen Dur-Akkorden stets Schlimmes ankündigt, erträgt Ayka stoisch, wenn sie zusammensackt, steht sie wieder auf, auch wenn man nicht versteht, woher sie das nimmt – sie ist hart im Nehmen, und Jesljamowa, mit schweißnassen Haaren und leichter Exophorie, gibt ihr eine stille Würde und eine zähe Energie. Für ihre Leistung gewann Jesljamowa 2018 zu Recht den Darsteller-Preis bei den Filmfestspielen von Cannes.

Ob Dvortsevoy vielleicht in seinem Problemauftürmen übertreibt, ob seine Konstruktion des weiblichen Martyriums und der gesellschaftlichen Ignoranz zu stark und trotz der realistischen Bilder zu artifiziell ausfällt, ist angesichts der zutiefst humanitären Botschaft irrelevant – dass tatsächlich jedes Jahr Hunderte Kirgisinnen in Moskau anonym entbinden, ihre Mutterschaft auch wegen unüberwindbarer ökonomischer Hindernisse nicht antreten, stellt einen Fakt dar, der den Film höchstens noch dringlicher macht. Dass Dvortsevoy es schafft, das affektiv selbstverständlich aufgeladene Mutter-Kind-Thema auf der Kitschleiter ganz unten, aber auf der Emotionsskala ganz oben anzusiedeln, ist zudem sein großes Verdienst. Irgendein Arbeitsmigrant wird genauso versucht haben, sein oder ihr Glück in Moskau zu finden, und genauso oder ähnlich gescheitert sein. Dieser Person setzt Ayka ein Denkmal. Und dieses Denkmal ist nicht schön, sondern dringlich.

Ayka Sergei Dvortsevoy Russland, Deutschland u. a. 2018, 100 Minuten

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