Hamburger Rotznasen, die über Himmel-und-Hölle-Kästchen hüpfen. Die Eis schlecken, sich im Sandkasten schubsen, in kurzen Lederhosen Fußball spielen und dabei ein Fenster kaputt schießen, und die ein kicherndes Mädchen in einen Reifenturm gesteckt haben, der schließlich umfällt. Dazu der Klang von Maultrommel, Moog-Bass und Orgel-Akkorden, unterlegt mit der weisen Zeile „Wer nicht fragt, bleibt dumm“: Der vom Jazzmusiker Ingfried Hoffmann instrumentierte alte Vorspann der deutschen, vom NDR produzierten Sesamstraße war seit Januar 1973 ein Sinnbild antiautoritären 70er-Flairs. Er zeigte ein Kinderland – in dem kein Erwachsener den Entdeckungswillen, die Neugier und Mut seiner Zöglinge stören durfte.
Damit pas
Damit passte er perfekt zur Intention der Sendung. Sesame Street wurde vier Jahre zuvor im US-amerikanischen Children’s Television Workshop als niedrigschwelliges Bildungsangebot für Kinder aus prekären Haushalten entwickelt. Von Anfang an setzte man mit der Hilfe Jim Hensons auf Puppen als Kommunikatoren – und diese Puppen las man als „colourblind“: Die Haut von Ernie, Bert und dem zahlenverliebten Graf Zahl (der im Original den doppeldeutigen Namen „The Count“ trägt) ist gelb, orange oder lila. Der Frosch Kermit quakt in Grün, das freundliche Monster Grobi trägt blaues Zottelfell. Die menschlichen Kontaktpersonen dieser Puppen waren ebenso divers – mit Susan (Loretta Long), Gordon (Matt Robinson) und Maria (Sonia Manzano) lebten Afroamerikaner:innen und Hispanics friedlich mit Weißen wie dem Tante-Emma-Laden-Besitzer Herrn Hooper (Will Lee) und von allen akzeptierten Mülltonnen-Pennern wie Oscar im multikulturellen Sesamstraßen-Kiez, Bobs gehörlose Freundin Linda (Linda Bove) bereicherte die Vielfalt um ASL (American Sign Language).Nach dem deutschen Vorspann war es mit der hehren Intention allerdings auch schon bald vorbei: Wenn seit 1978 auf den bundesrepublikanischen Bildschirmen die Wer-Wie-Was-Melodie in behäbigen Bläsersound wechselte, und ein großes, plumpes, bärenartiges Wesen herein geschlurft kam, befand man sich eindeutig wieder im hölzernen Heimatland. Samson, dessen besorgtes „Uiuiuiui!“ den pingeligen Charakter verriet, suchte sein „Schnuffeltuch“ mit der Hilfe von etablierten deutschen Schauspieler:innen wie Lilo Pulver, Henning Venske, Manfred Krug oder Horst Janson. Die rosafarbene, steife Tüll-Frisur und Stimme seiner Freundin Tiffy drückten ebenfalls eine gewisse Johanna von Koczian-artige Spießigkeit aus – und das nölig-aristokratische Idiom eines igelartigen Wesens namens „Uli von Bödefeld“ verriet seinen ganz und gar bildungsbürgerlichen Background ebenso wie sein Adelsprädikat.In fünf Jahrzehnten gab es nur wenig MultikultiTrotzdem: Besser wurde und wird es nicht, was heimisches Kinderfernsehen angeht. Zur Feier von 50 Jahren deutscher Sesamstraße holt der NDR darum groß aus – und ließ Grobi in einer Tagesthemen-Sendung die berühmteste aller Nachrichtenpannen nachspielen: Wie bei einer Tagesschau-Sendung aus dem Jahr 2000, in der Sprecherin Susanne Daubner ihr „Guten Morgen“ mit einem freundlichen „Morgen!“ eines Putzmannes in New-York-Basecap quittiert sah, der ungerührt weiter on-camera das Studio feudelte, wischte Grobi im ähnlichen Outfit das Nachrichtenstudio. Ole Kampovski, Leiter der Abteilung Kinder und Jugend beim NDR, stellte später im Beitrag fest: „Sesamstraße steht schon seit vielen Jahren für Diversität. In der Sesamstraße kommen alle zusammen – Menschen, Tiere alle Felle und Hautfarben.“Doch der deutsche Ableger der Sesamstraße hätte viel mehr machen können. Erst 1995 gesellte sich mit Vijak Bajani sechs Jahre lang eine deutschtürkische Schauspielerin zu den Puppen, von 2003 bis 2008 bekam der Gemüsehändler mit Mehmet Yilmaz als „Mehmet“ einen Freund mit türkischen Wurzeln an die Seite gestellt – multikulturell eine recht magere Ausbeute für fünf Jahrzehnte, in denen das Thema immer lauter und bewusster besprochen wurde.Und das Problem ist komplex – auch, was die Idee der farbenfrohen und damit nicht kulturell determinierten Puppen betrifft: Die intendierte fehlende Zuordnung machte es einerseits möglich, alles in die Puppen (und ihre Puppenwurzeln) hineinzulesen. Andererseits wünschen sich viele Zuschauer:innen, dass deutlichere Zeichen für Inklusion und Vielfalt gesetzt werden. So baute das US-amerikanische Sesamstraßen-Team im Jahr 2021 einen neuen Charakter in ihre Besatzung ein, und reagierte damit gegen den im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gestiegenen anti-asiatischen Rassismus: Ji-Young, ein karamellfarbenes Mädchen mit dunklem Zopf, erzählt viel von ihren koreanischen Wurzeln und bringt Ernie auch mal Kimbap mit.Die Black Lives-Matter-Bewegung wird ebenfalls verarbeitet – Elijah und sein Sohn Wes sind quasi „muppets of color“, die einem kleinen pelzigen Monster erklären, wie Melanin für verschiedene Hautfarben sorgt. Im Sesamstraßen-Original gibt es zudem schon lange Puppen mit arabisch klingenden Namen, die sich spielerisch und sensibel den Themen Flucht und Trauma widmen. Sogar die Rohingya aus Myanmar wurden in einer Spezialfolge thematisiert – den pädagogikerfahrenen US-Puppeteers und Produzent:innen ist kein Thema zu kompliziert.Immerhin: Die deutsche Sesamstraße schaffte es, an die Moral von ein paar Gaunern zu appellieren. 1996 wurden die Original-Ernie-und-Bert-Puppen in Erfurt gestohlen, sie hatten einen Wert von 180 000 D-Mark. Der Ernie-Sprecher Gerd Duwner wandte sich daraufhin über die Medien an die Täter. Und die besannen sich (vermutlich angesichts der unverkennbaren Lache) eines Besseren – und gaben sie zurück. Die Puppendiebe wurden nie gefasst.