Niemand weiß, wie Orpheus wirklich klang. Wie er es schaffte, das gnatzige Meer zu beruhigen, den miesepetrigen Hades um den Finger zu wickeln, die Steine zum Weinen zu bringen. Und vor allem weiß niemand, wieso sie weinten: vielleicht ja auch aus reiner Verzweiflung.
Diese Platte ist jedenfalls zum Steinerweichen. Aber auf eine gute Art: Lilith Stangenberg ist Orphea, ein weiblicher Orpheus. Ihre Lyra ist eine Heimorgel, gespielt vom philippinischen Multitalent, Filmemacher und Musiker Khavn De La Cruz. Und ihr Konzertmeister ist Alexander Kluge, der mit beiden Künstler*innen einen ausufernd-charmanten Mythen-Experimentalfilm gleichen Namens drehte.
Auf der nun noch vor dem verschobenen Filmstart erschienenen Platte singt sich die Schauspielerin trotzig frei: Lovesongs From Hell heißt das erste Album des Stangenberg-Khavn-Projekts Orphea. Während Khavn die integrierte Rhythmusmaschine wie ein lockeres Gebiss klappern lässt und Tasten so herzlich drückt, dass sie quäken, kreist Stangenbergs Stimme mit Eifer und Aufrichtigkeit um die Liebe, die Einsamkeit und das Drama: „I’m nobody and I’ll be nobody“ singt sie in Orphan. „Knock, knock, sad, sad song, don’t come near me, come in my ear“, fordert sie in Leper, irgendwo sitzt auch noch Brezel Göring von Stereo Total, dreht an Knöpfchen oder spielt versonnen ein kleines Schlagzeug.
Die Ernsthaftigkeit, mit der hier Easy Listening verdüstert und die Themen des antiken Stoffes verarbeitet sind, ist charmant: Wer sagt denn (siehe das zweifelhafte Wissen über Orpheus’ Talent), dass anrührende Musik durch technische Brillanz bestechen muss? Orphea ist menschlich brillant. Der Song Blind mit seinem gemächlich polternden Beat hat in der Anmutung etwas von Velvet Undergrounds Heroin: „I am blind – a contradiction“, singt Orphea, „I place my hand on the arm of a man“, während die Orgel schwer im Hintergrund pustet und einen nur die Dur-Melodien von der Nico-Assoziation abhalten.
Nicht umdrehen, du Trottel!
Assoziationen sind ohnehin gewollt: Deutlich erkennt man Rainer Maria Rilkes Das Lied des Trinkers mit seinen verzweifelten Zeilen über die Sucht. „Da wollt’ ich es halten, da hielt es der Wein, bis ich mich ganz auf ihn verließ“, singt Stangenberg. Khavn spricht von einer „Undercover-Séance-Party“ mit Rilke, Buzzati, Cocteau und Salanga. Was in Kluges Kinofilm Orphea passieren, collagieren, explodieren wird, inwiefern das Tor zur Unterwelt sich in einem Slum befindet, ist für den Genuss des Albums unwichtig: Es ist ein musikalischer Vorbote, aber nicht zwingend der Hölle. Im Video zum Song Tiwakal kann man sich einen Eindruck abholen – grobkörnig flimmernde schwarzweiße Bilder von Stangenberg, die sich in einer Bar auf einem Stuhl um sich selbst dreht. Kluge, für den der Orphea-Film die zweite Zusammenarbeit mit Khavn ist, geht es um Eindrücke. Er kann es sich erlauben, erratisch zu sein, weil so viel Wissen dahintersteckt, dass es interessant bleibt. Das Album Orphea – Lovesongs From Hell ist eher emotional als erratisch. Aber es offenbart die gleiche Lust am kreativen Umgang mit Wissen und Halbwissen, Unter- und Halbwelten. In der Legende dreht sich Orpheus, dieser Trottel, bekanntlich um und schickt seine Frau damit zurück zu den freudlosen Schatten. Das Album lässt einen Mitleid mit ihm empfinden: Das war ja nicht böse. Nur ungünstig.
Info
Lovesongs From Hell Orphea Fun in the Church/Bertus/Zebralution
Kommentare 2
naja, singen bis zum stein-erweichen hat seine tücken.
deshalb ist der work-song auf dem bau: passé.
hauptziele des stein-erweichenden musik-produzierens
sind aber auch nicht die steinernen herzen des des-interessierten publikums.
im gegenteil: gerade das musik-publikum mit den weichen herzen
(und ihren zugänglichen geld-börsen) sind wert,
daß m-produzenten sich um eine schöne öffnung/einen neuen zugang bemühen.
oda?
Immer wenn Musik so freundlich-ironisch und treffend metaphernd beschrieben wird, werde ich neugierig. Also hab ich das Album einmal komplett und chronologisch - als wärs ein Vinyl - angehört. Tatsächlich, die Rhythmusmaschine klappert wie ein lockeres Gebiss, die Tasten quäken. Am besten gefällt mir die Formulierung vom verdüsterten Easy Listening. :-)
Auch das mit der "Lust am kreativen Umgang mit Wissen und Halbwissen" trifft zu. Damit bin ich dann bei dem Punkt, der verhindert, dass die Songs auch mich Stein erweichen. Die Intentionen sind zu deutlich. Und vielleicht ist es auch für einen nicht englischmuttersprachlichen Zuhörer wie mich ungünstig, dass die Texte erst im Kopf über die eine Hürde setzen müssen. Das kostet etwas Zeit und die Worte lösen sich von der Musik und der Stimme. Ab "Trinker" (deutscher Text) wurde das anders. Karlik (russisch) klingt phonetisch altvertraut. "Tiwakal" (???), keine Chance zu "verstehen", nur noch zu hören. Und das war dann doch noch ein bisschen erweichend.