Wie ein lockeres Gebiss

Musik Lilith Stangenberg ist Orphea. Ihr Album „Lovesongs From Hell“ ist zum Steinerweichen
Ausgabe 43/2020

Niemand weiß, wie Orpheus wirklich klang. Wie er es schaffte, das gnatzige Meer zu beruhigen, den miesepetrigen Hades um den Finger zu wickeln, die Steine zum Weinen zu bringen. Und vor allem weiß niemand, wieso sie weinten: vielleicht ja auch aus reiner Verzweiflung.

Diese Platte ist jedenfalls zum Steinerweichen. Aber auf eine gute Art: Lilith Stangenberg ist Orphea, ein weiblicher Orpheus. Ihre Lyra ist eine Heimorgel, gespielt vom philippinischen Multitalent, Filmemacher und Musiker Khavn De La Cruz. Und ihr Konzertmeister ist Alexander Kluge, der mit beiden Künstler*innen einen ausufernd-charmanten Mythen-Experimentalfilm gleichen Namens drehte.

Auf der nun noch vor dem verschobenen Filmstart erschienenen Platte singt sich die Schauspielerin trotzig frei: Lovesongs From Hell heißt das erste Album des Stangenberg-Khavn-Projekts Orphea. Während Khavn die integrierte Rhythmusmaschine wie ein lockeres Gebiss klappern lässt und Tasten so herzlich drückt, dass sie quäken, kreist Stangenbergs Stimme mit Eifer und Aufrichtigkeit um die Liebe, die Einsamkeit und das Drama: „I’m nobody and I’ll be nobody“ singt sie in Orphan. „Knock, knock, sad, sad song, don’t come near me, come in my ear“, fordert sie in Leper, irgendwo sitzt auch noch Brezel Göring von Stereo Total, dreht an Knöpfchen oder spielt versonnen ein kleines Schlagzeug.

Die Ernsthaftigkeit, mit der hier Easy Listening verdüstert und die Themen des antiken Stoffes verarbeitet sind, ist charmant: Wer sagt denn (siehe das zweifelhafte Wissen über Orpheus’ Talent), dass anrührende Musik durch technische Brillanz bestechen muss? Orphea ist menschlich brillant. Der Song Blind mit seinem gemächlich polternden Beat hat in der Anmutung etwas von Velvet Undergrounds Heroin: „I am blind – a contradiction“, singt Orphea, „I place my hand on the arm of a man“, während die Orgel schwer im Hintergrund pustet und einen nur die Dur-Melodien von der Nico-Assoziation abhalten.

Nicht umdrehen, du Trottel!

Assoziationen sind ohnehin gewollt: Deutlich erkennt man Rainer Maria Rilkes Das Lied des Trinkers mit seinen verzweifelten Zeilen über die Sucht. „Da wollt’ ich es halten, da hielt es der Wein, bis ich mich ganz auf ihn verließ“, singt Stangenberg. Khavn spricht von einer „Undercover-Séance-Party“ mit Rilke, Buzzati, Cocteau und Salanga. Was in Kluges Kinofilm Orphea passieren, collagieren, explodieren wird, inwiefern das Tor zur Unterwelt sich in einem Slum befindet, ist für den Genuss des Albums unwichtig: Es ist ein musikalischer Vorbote, aber nicht zwingend der Hölle. Im Video zum Song Tiwakal kann man sich einen Eindruck abholen – grobkörnig flimmernde schwarzweiße Bilder von Stangenberg, die sich in einer Bar auf einem Stuhl um sich selbst dreht. Kluge, für den der Orphea-Film die zweite Zusammenarbeit mit Khavn ist, geht es um Eindrücke. Er kann es sich erlauben, erratisch zu sein, weil so viel Wissen dahintersteckt, dass es interessant bleibt. Das Album Orphea – Lovesongs From Hell ist eher emotional als erratisch. Aber es offenbart die gleiche Lust am kreativen Umgang mit Wissen und Halbwissen, Unter- und Halbwelten. In der Legende dreht sich Orpheus, dieser Trottel, bekanntlich um und schickt seine Frau damit zurück zu den freudlosen Schatten. Das Album lässt einen Mitleid mit ihm empfinden: Das war ja nicht böse. Nur ungünstig.

Info

Lovesongs From Hell Orphea Fun in the Church/Bertus/Zebralution

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