Wirkt besser als in echt

Inszenierung Wie ein preisgekrönter Dokumentarfilm über Sexarbeit zum Skandal wurde
Ausgabe 13/2021

Nach ungefähr zehn Minuten Film sagt die Frau „Ist scheiße hier“ und zieht an ihrer Zigarette. „Ich will weg hier.“ Sie heißt Milena, kommt aus Rumänien und sitzt an einem Waldrand in Niedersachsen zwischen blinkenden Lichterketten in einem Wohnmobil, um Freiern ihre Dienste als Sexarbeiterin anzubieten.

Durch den spürbaren Unmut in dieser Situation deutet Lovemobil seine Haltung an: Die Frau, die (wie sie später erzählt) unter falschen Versprechungen in das Land gelockt und zunächst sexuell missbraucht wurde, hasst – jedenfalls in dem Moment – ihr Leben, ihren Beruf, die Freier. Weibliche Sexarbeit, das stellt Lovemobil klar, hat nichts mit weiblicher Lust oder Selbstbestimmung zu tun. Sondern mit männlicher Macht. Es wird in der Szene ein weiterer, wichtiger Punkt gemacht: Sie soll beweisen, dass ein Filmteam anwesend ist. Kamera und Regie sind unsichtbar und unhörbar, aber Milena bestätigt ihre Gegenwart, indem sie direkt zur Person hinter der Kamera spricht. Wer sich in den ersten Minuten des Films von Elke Lehrenkrauss wunderte, wie natürlich und offen die Protagonist:innen (neben Milena gibt es eine Sexarbeiterin aus Nigeria namens Rita, einen Bordellbesitzer, diverse Freier und die kettenrauchende Wohnwagenvermieterin Uschi) mit der Anwesenheit milieufremder Filmschaffender umgehen, den konnte das beruhigen. Lovemobil wurde von allen Beteiligten (Filmemacherin, Koproduzent NDR, Förderer) als Dokumentarfilm bezeichnet, lief mit dieser Etikettierung erfolgreich im Kino und auf Festivals. Anscheinend hatte die Regisseurin, wie sie behauptet hatte, besonders lange recherchiert, viel gedreht und ein besonderes Vertrauensverhältnis aufbauen können.

Doch all das war gelogen. Lovemobil ist ein Hybrid aus Reenactment und echten Szenen, das haben Recherchen des NDR ergeben und damit einen Skandal ausgelöst. Es stehen tatsächlich Wohnwagen mit Sexarbeiterinnen in Niedersachsen. Aber Rita, Milena, der Bordellbesitzer und einige der Freier sind Darsteller:innen. Laut einem Panorama 3-Beitrag wurden sie von der Regisseurin zu Dialogen und Handlungen instruiert und glaubten teilweise, in einem Spielfilm mitzumachen.

Nachgestellt und gelogen

Die Geschichte, die Lehrenkrauss ihren Ruf, ihre Preise (das Grimme-Institut strich die Nominierung, Lehrenkrauss gab den Deutschen Dokumentarfilmpreis zurück) und vielleicht ihre Zukunft als Regisseurin kostet, ist umso ärgerlicher, weil sie das Gegenteil von dem bewirkt, was sie beabsichtigte: die Haltung zur Ausbeutung in der Sexarbeit, die einfühlsame Darstellung, die den Protagonistinnen viel Raum gibt – all das ist geschenkt. Rita, die in einer Szene in einem Bordell nach Arbeit fragt, wird aufgrund ihrer Hautfarbe abgelehnt: Nicht-weißen Frauen geht es noch schlechter, wollte Lehrenkrauss ausdrücken. Der angebliche Bordellbesitzer behauptet im Panorama-Beitrag, dass er schon lange als Hausmeister arbeitet und nie so etwas Rassistisches sagen würde. Woher kommt die Hybris, so dreist zu lügen? Auch die betreuende Redaktion sei zur Verantwortung zu ziehen, las man in Kommentaren, und dass Dokumentarfilmer:innen permanent zu schlecht bezahlt würden. Natürlich tragen Redaktionen eine Mitverantwortung. Sie können aber, gerade wenn es um Nähe, um Vertrauen, um Sensibilität geht, nicht wie Wachhunde Gespräche belauern, Hintergründe der nicht immer legalen Umstände recherchieren, sich Hunderte Stunden Rohmaterial anschauen. Sie müssen, wie später das Publikum, dem Film glauben.

Es wird bei Lehrenkrauss einen Moment gegeben haben, an dem sie merkte, dass die ursprüngliche Absicht, einen Dokumentarfilm zu drehen, nicht durchzuführen war, vielleicht weil die (echten) Protagonistinnen sich als unzuverlässiger, unwilliger, ängstlicher als gedacht erwiesen. Vielleicht kam der Moment so spät, dass die bis dato geleistete Arbeit nichtig geworden wäre. Weil die Budgets für Dokumentarfilm wirklich zu gering und die Sendeplätze umkämpft sind, wird sich Lehrenkrauss nicht getraut haben, das Format ihres Films offiziell zu modulieren. Vielleicht befürchtete sie, dass er mit (gekennzeichneten) Reenactment-Szenen nicht die Durchschlagskraft haben könnte. Vielleicht nahm sie die Formatgrenzen aber auch einfach sportlich: Nachgestellte Szenen, unscharfe Vermischungen aus originalem und nachgedrehtem Material sind längst Standard in internationalen hybriden Produktionen. Der deutsche Film Schuss in der Nacht über die Ermordung Walter Lübckes stellt Verhöre dort nach, wo die Regie sie haben will. Operation Varsity Blues besteht vor allem aus nachgespielten Telefonaten in spekulativen Umgebungen.

Welchen Grund es immer auch hat, dieser Skandal kommt in einer Zeit, in der den Medien und dem Dokumentarbereich von allen möglichen Seiten Wahrhaftigkeit abgesprochen wird. In der die Relotius-Affäre die „Lügenpresse“-Rufer:innen bestätigt, in der es thematisch relevante, kleine Filme wie Lovemobil schwer auf dem Markt haben. Insofern hat Lehrenkrauss das Kind selbst in den Brunnen geworfen.

Unsere Autorin Jenni Zylka sitzt in der Grimme-Preis-Jury

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