Hätte, hätte, Fahrradkette, sagt man bei falschen Entscheidungen. Hätte Stefan Butler (Fionn Whitehead), der junge, traumatisierte Programmierer, sich doch nur entschlossen, sein neues, interaktives Computerspiel Bandersnatch zu Hause fertig zu programmieren. Doch er entscheidet, das Angebot des Games-Entwicklers Tuckersoft anzunehmen und dort im Büro zu arbeiten. Das ändert einiges.
Was genau, soll hier nicht verraten werden. Nur, dass es nicht wirklich Stefan war, der die Entscheidung traf. Denn Bandersnatch, der neueste Teil der britischen Science-Fiction-Reihe Black Mirror, ist quasi selbst ein Computerspiel: Der Zuschauer beziehungsweise die Zuschauerin kann per Mausklick in das Leben des Helden eingreifen. Er oder sie kann wählen, ob Stefan Butlers Vater ihm am Morgen Frosties oder Sugar Puffs in die Schüssel kippt, ob er auf seinem Walkman (die Geschichte spielt 1984) Thompson Twins oder eine Hit-Compilation hört, ob er lieber seine Psychologin trifft oder dem von ihm hochverehrten Programmierer Colin folgt, den er vor der Praxis auf der Straße sieht.
Die Macher von Bandersnatch, Drehbuchautor Charlie Brooker und Regisseur David Slade, haben zweieinhalb Stunden Drehmaterial bei Netflix untergebracht, aufgeteilt in circa 250 Einzelsegmente, die miteinander verwoben sind, die man aber nach einer Entscheidung bis zur nächsten nicht verlassen kann. Manche der Stränge leiten Stefan direkt ins Nichts, manche in die Wiederholung, an deren Ende beim zweiten Mal doch bitte das Richtige angeklickt werden soll. Manche führen zu einem drogeninduzierten Gespräch zwischen Stefan und Colin über alternative Realitäten und Fremdbestimmung – ein Thema, das auch für Stefan immer relevanter wird. Denn er, und das ist die beste Idee dieses an Ideen reichen, verschachtelten Werks, hat zunehmend das dumpfe Gefühl, von außen gelenkt zu werden – was er ja tatsächlich wird. Von uns nämlich, dem entzückten Publikum.
Auch andere Black-Mirror-Folgen verströmten bereits sympathischen Nerd-Geruch – diese hier ist die Mutter aller Nerds. Sie hat damit leider auch genau die gleiche kleine Schwäche, die man bei nerdigen Produktionen immer mal wieder erlebt: Ihr fehlt ein Blick für das Ganze. Zwar ist es eine extrem unterhaltsame Erfahrung, Stefans Handlungen mitzubestimmen, an den gleichen Punkten beim nächsten Mal anders zu entscheiden, herauszufinden, welche Hinweise und kleinen Unterschiede die Macher in den alternativen Zeitleisten versteckten. Doch Bandersnatch krankt daran, dass Charakter- und Atmosphärenentwicklung bei dem Strauß von Entscheidungsmöglichkeiten auf der Strecke bleiben.
Dabei mag man den versponnenen Stefan, mag die hübsch ausgestattete 80er-Jahre-Ästhetik, man will wissen, was wirklich mit seiner verstorbenen Mutter war und was sich tatsächlich in dem verschlossenen Zimmer seines Hauses befindet – die Einführung der Protagonisten hat serienmäßig prima geklappt. Die Heldenreise, auf der Stefan sich befindet, ist jedoch ein Irrgarten – sodass man am Ende, oder nach mehreren Enden, das gleiche Gefühl wie nach zu viel Gaming hat: War das vergeudete Zeit?
War es natürlich nicht. Immerhin hat man die Geburt eines neuen Formats erlebt, das hoffentlich Schule macht, sodass es in Zukunft mehr und ausgefeiltere Game-Serien-Hybride geben wird. Die vielen leidenschaftlichen Gamer mit dieser interaktiven Sichtungserfahrung einzusammeln, haut bei Bandersnatch vielleicht noch nicht ganz hin. Genauso wenig schafft es die trotz alledem je nach „path“ recht kurz geratene Geschichte, die Fans von horizontalen Serien, die sich mit verschränkten Handlungssträngen gut auskennen, um den Finger zu wickeln. Und vielleicht haben diese beiden Gruppen auch – bislang – eine kleinere Schnittmenge, als Netflix sie sich wünscht.
Der Streamingdienst befindet sich übrigens momentan wegen eines einzigen Satzes in einem Urheberrechtsstreit: „This is a choose-your-own-adventure book“, erklärt Stefan an einer Stelle den Roman, auf dem sein Computerspiel basiert. Diese Bezeichnung hatte sich jedoch der Chooseco-Verlag für eine eigene Kinderbuchreihe gesichert. Er verklagt Netflix jetzt auf 25 Millionen Dollar. Vielleicht sollte man also schnell eine neue Variante der Szene programmieren, äh, drehen, in der Stefan diesen Satz einfach nicht sagt.
Kommentare 2
Diesem Beitrag fällt nicht auf, wie hirnrissig er im Grunde ist. Wenn ich gnädig bin, akzeptiere ich, daß er den Reiz vorgestanzter Vergnügungen erhöht, eine clevere Geschäftsidee ist. Aber:
<… sodass man am Ende, oder nach mehreren Enden, das gleiche Gefühl wie nach zu viel Gaming hat: War das vergeudete Zeit?>
Die Gefühle trügen selten, so auch hier. Dabei ist Zeitverschwendung ein Euphemismus. Es ist die Mantraisierung des Lebens, die Selbstaffirmation. Der Unterschied zwischen guter und schlechter Unterhaltung ist, daß erstere unbemerkt bildet, so wie das Spielen von Jungtieren und Kindern Fähigkeiten erwerben läßt, letztere ist bestenfalls Vernichtung von Lebenszeit, schlimmstenfalls die Vernichtung des autonomen Subjekts in der Sucht. Ersteres kann noch die positive Funktion haben, dem Subjekt notwendige regenerative Regressionsphasen zu verschaffen, aber auch in dieser Funktion ist diese Suspendierung vom Leben suboptimal.
Mich erinnert dieses Verfahren ein bißchen an die verkaufsfördernde Maßnahme bei Blockbustern, ein Testpublikum über die Verlaufs- und Zielvariante der Filmerzählung abstimmen zu lassen. Nun muß man konzedieren, daß auf Kleinkinderniveau auch die „affirmativen“ Märchen eine positive Funktion haben. Es wird eine Spannung erzeugt, die sich am Ende meist auf wundersame Weise löst, indem dem kindlichen Wunsch nach Gerechtigkeit und Harmonie, nach einem happy end entsprochen wird. Das ist sicher ein Lernen, Konflikte auszuhalten und auf ein gutes Ende zu hoffen. Aber wie infantilisiert ist eine Gesellschaft, die solche Märchen für Erwachsene gut findet und braucht?
Es ist der große Unterschied von Kunst und Unterhaltung, daß erstere den kreativen Konsumenten (Rezipienten) anspricht, seinen Horizont erweitert, seine Einstellungen infrage stellt, ihn mit Schönheit nicht bedient, sondern provoziert. Gut, Unterhaltung hat nicht diesen Anspruch, aber muß sie aufs Gegenteil hinauslaufen, muß sie schlechte Unterhaltung sein?
Eine perverse Parole war einmal „jeder ist ein Künstler“. Wenn das stimmte, wäre Kunst überflüssig, wäre „Kunst“ kein prädikatives Substantiv. Gemeint war damit aber „jeder Mensch hat künstlerische Potentiale“, und die sollten gefördert werden. Wenn gute Unterhaltung solche Potentiale anzapft, macht sie den Konsumenten zu einem Produzenten, zu einem Künstler im schlichtesten Sinn. Moderne Kunst versucht das gelegentlich. So wird bspw angeboten, eine Komposition auf n Notenblättern, oder einen literarischen Text auf n Seiten, vom Rezipienten selbst zu einer Gesamtkomposition, einem Gesamttext zusammenstellen zu lassen, was n! Versionen (bzw noch mehr, wenn Auslassungen und Wiederholungen erlaubt sind) des Kunstwerks ergibt. Sinn macht das selbstverständlich nur, wenn es dem Künstler gelingt, entweder die Teile so zu konstruieren, daß in jeder Zusammenstellung das gleiche Ergebnis herauskommt, oder im Gegenteil extrem unterschiedliche Varianten entstehen. Wenn in letzterem Fall das Ergebnis sich im Rahmen des bei der Auswahl intendierten Verlaufs bewegt, ist der Rezipient an der Produktion des Kunstwerks beteiligt worden. Aber auch deterministische Kunstprodukte spielen großartig mit der Variation, sei es die perspektivische Erzählung im Alexandria-Roman von Durrell, sei es die aufregende Wendung vom happy end zur Katastrophe in Hanekes „Funny Games“.
Nun könnte das Spielen mit Möglichkeiten so organisiert werden, daß durchaus das Mitspielen dem vorher geschilderten in der Kunst entspricht, daß also etwa jede Entscheidung des Spielers logisch notwendig auf einen katastrophalen Abbruch hinausläuft, was den formalen Spielen ja entspricht, bei denen die Anforderungen an den Spieler immer höher geschraubt werden, bis er an seine Grenzen kommt. Oder es ergeben sich tatsächlich grundsätzlich unterschiedliche Endtableaus. Damit jedoch würde diese (inhaltliche) Unterhaltungsform zu einer Kunstform.
Ich fand es schlecht. Habe den Jungen bei der Firma unter Vertrag gehen, vom Balkon springen und seinen Computer zerstören lassen. War alles falsch. Fing ständig neu an und war nach 20 Minuten zu Ende. Blödsinn. Wenn ich einen Film oder eine Serie sehe, möchte ich eine Geschichte erzählt bekommen, horizontal, wie von einem Buch, und mir dazu meine Gedanken machen. Wem das zu wenig Interaktion ist, macht sich zu wenige Gedanken.