Eine Fabrik, die komplett selbstständig arbeitet, genau die Dinge herstellt, die in diesem Moment gebraucht werden, und in der keine Fehler passieren: die deutsche Industrie hat einen Traum. Und die Großkonzerne gehen mit großen Schritten voran auf dem Weg zur Realisierung ihrer Vision der „Industrie 4.0“. Bosch und Siemens investieren viele Millionen, um die Automatisierung ihrer Produktion voranzutreiben.
Seine Einspritzdüsen für Dieselmotoren etwa produzierte Bosch 1927 erstmals in Serie, ein Meilenstein für das 1886 gegründete Unternehmen: Viele Lastwagen europäischer Hersteller fuhren bald mit der Einspritztechnik, die Bosch-Arbeiter an den Maschinen des Unternehmens hergestellt hatten. Heute ist es der Diesel-Injektor selbst, der Großteile seiner Produktion steuert. Er bekommt ein Etikett mit den technischen Anforderungen, dem Zielort und Auftraggeber. Auf seinem Weg entlang der verschiedenen Bearbeitungsstationen lesen Roboter die Informationen und bearbeiten das Teil nach den Anforderungen des Kunden. Der Diesel-Injektor „sagt“ den Robotern, was genau sie zu tun haben.
Diese Art der sich selbst organisierenden Fertigung ist besonders interessant für Firmen, die ihr Produkt in vielen Varianten herstellen. Dazu gehören zunehmend auch Autobauer, die ihren Kunden bereits jetzt anbieten, sich ihren Wagen im Internet nach Wunsch zusammenzustellen. Je flexibler die Produktionsanlagen, desto geringer der zusätzliche Aufwand, Einzelstücke statt Massenware herzustellen. Im Fachjargon heißt das „individualisierte Massenproduktion“. Sie ist eine der Verheißungen von Industrie 4.0.
Die übergeordnete Vision aber lautet: Wachstum. Das haben Industrieverbände und Politiker im Blick, wenn sie über Industrie 4.0 sprechen. Gerne wird eine Studie der Unternehmensberater der Boston Consulting Group zitiert, wonach durch Digitalisierung und Vernetzung der Produktion in den kommenden zehn Jahren 390.000 neue Arbeitsplätze in Deutschland entstehen werden. Zudem soll das deutsche Bruttoinlandsprodukt im gleichen Zeitraum um 30 Milliarden Euro wachsen.
Da will niemand leer ausgehen. Deutsche Unternehmen fürchten um ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit. Deswegen investieren große Konzerne hierzulande viel Geld in die Entwicklung neuer Technologien: Bei Bosch sind es 500 Millionen Euro pro Jahr. Bei Siemens beschäftigt sich mittlerweile mehr als die Hälfte der rund 30.000 Mitarbeiter der Forschungsabteilung mit Softwareentwicklung.
Von solchen Möglichkeiten können viele Mittelständler nur träumen. Sie bilden das Rückgrat der deutschen Wirtschaft, fast zwei Drittel aller Beschäftigten arbeiten in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU). Ihre Zurückhaltung gegenüber der Industrie 4.0 ist groß. So mahnt der Präsident des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft, Mario Ohoven: „Wenn selbst in der innovativen und exportstarken Elektroindustrie rund 40 Prozent der Unternehmen meinen, Digitalisierung sei nicht ihr Thema, dann ist das ein erschreckendes Alarmsignal.“ Es sei keine Lösung, angesichts des technologischen Wandels „den Kopf in den Sand zu stecken“. Die Forderung nach mehr Mut zum Risiko klingt auch im „Impulspapier“ an, das Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) Mitte Mai unter dem Titel „Industrie 4.0 und Digitale Wirtschaft“ vorgelegt hat. „Zögerlich und unentschlossen“ verhielten sich Unternehmen mitunter, wenn es um die Herausforderungen der Digitalisierung gehe: „Etliche Mittelständler können das Innovationstempo disruptiver digitaler Technologien oft nicht mitgehen.“
Doch viele der vom Ministerium vorgesehenen Maßnahmen zur Unterstützung richten sich ausgerechnet an jene Mittelständler, die per se digitalaffin sind: Start-ups. Sie sollen leichter an Wagniskapital kommen, um wachsen zu können. Für den klassischen Mittelstand und das Handwerk gibt es immerhin Förderungen, um sich externe Berater für Digitalisierung leisten zu können; vorgesehen sind sechsmonatige Modellprojekte im Ruhrgebiet und in Sachsen. Doch für viele kleine und mittlere Betriebe ist die entscheidende Hürde gar nicht der Mangel an Mut. Vielmehr können sie sich das Risiko, die Anschaffung neuer Technologien also, nicht so ohne weiteres leisten wie große Konkurrenten.
Einfach Sensoren
„Die virtuelle Fabrik ist auch bei uns das Ziel“, sagt Rainer Ponzel. Er ist Geschäftsführer der Peter Hoppe GmbH in Ostwestfalen, eines mittelständischen Betriebes, der Metallteile stanzt und lasert. Er kann nicht alle paar Monate eine neue Maschine kaufen, eher alle zwei Jahre. Daher sind Zwischenlösungen angesagt: Die Maschinen sollen mit einfachen Sensoren aufgerüstet werden, damit zunächst einmal ihre Auslastung besser gesteuert wird. Schon umgesetzt ist die Vernetzung der Kunden mit dem Warenwirtschaftssystem der Firma. Sie schreiben ihre Aufträge direkt in das System, Rechnungen werden automatisch erstellt.
Wie die Prozesse weiter automatisiert werden können, müssen sich die Führungskräfte kleiner Firmen mehr oder weniger selbst überlegen. Ein Budget für Forschung und Entwicklung gibt es oft nicht. Hinzu kommt der Nachteil beim Werben um Fachkräfte mit digitaler Expertise. Spitzenkräfte gehen eher zu großen Konzernen. Fortbildungen für die vorhandene Belegschaft sind teuer und zeitaufwendig und für Mittelständler daher ebenfalls schwerer zu stemmen als für Konzerne. Und dann ist da noch die offene Frage der Standardisierung von Software und Schnittstellen: Jede Maschine hat ihre eigene Sprache und verwendet unterschiedliche Daten. Das kann schon innerhalb der eigenen vier Fabrik-wände zum Problem werden. Noch mehr aber, wenn die Datenübertragung über mehrere Produktionsstufen funktionieren soll – etwa von einem Autoteile-Zulieferer zum Autohersteller.
Macht der Standards
Auf der untersten Ebene der Sensoren könnte die Radio-Frequency Identification (RFID) ein Standard werden. Wie beim Diesel-Injektor werden bereits heute Bauteile mit RFID-Etiketten versehen, die den Produktionsrobotern Anweisungen geben. Zudem wird es Standards geben müssen, wie das am Computer entworfene 3-D-Modell eines Bauteils auf die Maschine umgesetzt wird. Je weiter man sich vom konkreten Fall entfernt, desto abstrakter werden die Modelle. An der Spitze steht eine Referenzarchitektur für die gesamte Produktion, die unabhängig von den Maschinen und vom Produkt funktionieren soll.
Mitreden können die KMU bei der Standardisierung kaum. In den entscheidenden Gremien sitzen die großen Industrieverbände und die großen Firmen. Standardisierung erfolge vor allem auf internationaler Ebene, konstatiert das Impulspapier aus dem Wirtschaftsministerium, deutsche Unternehmen müssten unbedingt daran mitwirken.
Für die Kleinen ist das ungleich schwerer zu realisieren, so notwendig zum Überleben ihre Eingliederung in vernetzte Produktionsketten auch ist. Zugleich müssen sie fürchten, dass gewisse Standards den Markteintritt von – mitunter branchenfernen – Konkurrenten erleichtern.
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