Wahnsinn, dieser Hof inmitten der Pfirsichfelder! Wie die sommerliche Sonne an den ertragreichen Bäumchen entlangschleicht, das helle Haus, in dem die Familie Solé, Oma, Opa, Vater, Mutter, mit zwei Töchtern und einem Sohn wohnt, in warme Farben taucht – eine kleine Insel der nicht immer Harmonischen, aber doch der anscheinend Glückseligen.
Oder, um bei der wundervollen Metapher zu bleiben, die die katalanische Regisseurin Carla Simón in Alcarràs – Die letzte Ernte findet: ein Raumschiff. „Wir nähern uns der Sonne“, ruft die sechsjährige Iris (Ainet Jounou) gleich in der ersten Szene. Gemeinsam mit ihren beiden Zwillingscousins sitzt das Mädchen mit einer kaputten Sonnenbrille auf der Nase in dem geliebten alten Autowrack
en alten Autowrack am See, ihrem Raumschiff, und fliegt, den interstellaren Widrigkeiten zum Trotz, durchs All.Im Gegensatz zum imaginierten Raumschiff ist die Bedrohung von außen, die die familiäre Existenz gefährdet, eine reale. Die Felder der Solés sollen einer Photovoltaik-Anlage weichen. Das Problem: Die Familie hat das Land vor Jahrzehnten von dem Großgrundbesitzer Pinyol aus Dank für die Rettung im Spanischen Bürgerkrieg überlassen bekommen, doch Dokumente darüber existieren nicht. Es gibt also nichts, was Großvater Rogelio (Josep Abad) und sein Sohn Quimet (Jordi Pujol Dolcet), der den Hof leitet, dem jungen Pinyol entgegensetzen könnten.Wie schon Simóns erster Film Fridas Sommer, in dem es um ein Mädchen ging, das beide Eltern verloren hatte und bei einem Onkel auf dem Land eine neue Familie findet, ist auch Alcarràs ein kinematografischer Abschied, ein filmischer Tanz durch einen letzten Sommer. Wie im feinfühligen Debütfilm ist die kindliche Perspektive erneut wichtig, doch diesmal ist sie größer ausgelegt und entwirft ein Mehrgenerationenporträt. Mit wunderbarer Gelassenheit und großer Liebe lässt die Regisseurin uns eintauchen in den Mikrokosmos der verschiedenen Menschen auf dem Hof.Daniela Cajías Kamera folgt den Familienangehörigen durch die sommerliche Hitze und zeichnet eine Atmosphäre des flirrenden Naturalismus: Da ist Großvater Rogelio, ein ruhiger Zeitgenosse, auf dessen Erbe die Familie ihre Existenz aufgebaut hat. Da sind sein Sohn, der heißblütige, knurrige Quimet, der gegen den Solarpark wettert und sich samt Familie in die harte Erntearbeit wirft, und seine geduldigen Frau Dolors (Anna Otín), die die Familie zusammenhält. Quimets ältester Sohn Roger (Albert Bosch) probiert sich auf Gabber-Partys, beim Marihuana-Anbau und würde am liebsten die Schule schmeißen und in die Fußstapfen des alten Herrn treten, seine jüngere Schwester Mariona (Xènia Roset) pubertiert und übt ihren Tiktok-Tanz. Die kleineren Kinder um die Jüngste Iris toben derweil durch die Felder auf der Suche nach einem Ersatz für das geliebte Wrack, das von der Solarfirma entsorgt wird. Durchweg spiegelt sich im kindliche Spiel die schwierige Situation.Nur oberflächlich unpolitischSimóns Film wurde auf der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet – entgegen der Erwartung vieler, denen eine größere politische Reibungsfläche fehlte. Wenn auch nicht offensiv im Vordergrund, wird in Alcarràs schließlich doch das Private zum Politikum, denn der Film erzählt von den persönlichen Opfern der Energiewende und vom Kampf der Bauern gegen das Preisdumping einer problematischen europäischen Agrarpolitik. „Wir müssen Rabatz machen, damit die Medien aufmerksam werden“, lautet die Devise der Landwirte bei den Vorbereitungen für eine Demo.Eingebetteter MedieninhaltWie schon in ihrem Debüt greift Simón in Alcarràs – der Titel bezieht sich auf das kleine katalanische Dorf, in dem der Film spielt – eigene Erfahrungen auf. Sie selbst verbrachte ihre Ferien auf der großväterlichen Pfirsichplantage, die nach dessen Tod von Onkeln übernommen wurde. Der biografische Bezug sorgt für eine große Zärtlichkeit in den Bildern – man glaubt zu spüren, dass die Regisseurin selbst als Kind durch die Felder gestreift ist und beim Nachbarn Melonen geklaut hat, so lebendig sind ihre Geschichten und Figuren. Verstärkt wird diese Authentizität durch das Spiel der Laiendarsteller:innen, die vollkommen unbefangen und unverbraucht agieren – und sämtlich aus der katalanischen Region stammen.Simóns humanistischer, vor Leben berstender Film, in dem sich Erinnerung und Fiktion berühren, lässt an Regisseurin Chloé Zhao denken. Beide Frauen arbeiten bevorzugt mit Laien aus den jeweiligen Milieus und ziehen, jede auf ihre eigene Art, ihre Inspiration aus einer besonderen Nähe zur Realität. Zhao wurde für Nomadland mit dem Goldenen Löwen in Venedig ausgezeichnet, wo im Jahr darauf auch Audrey Diwan für Das Ereignis, die Verfilmung eines autobiografischen Annie-Ernaux-Textes, den Hauptpreis erhielt. Ist das Kino dank der Corona-Krise an einem Punkt, an dem die reine Fiktion und Eskapismus zeitweise ausgedient haben?Die Realität jedenfalls, der sich die Familie Solé in Alcarràs stellen muss, wird bei aller Zärtlichkeit nicht beschönigt. Jedes Paradies, davon erzählt Carla Simón mit angenehmer Unaufgeregtheit, bittersüßer Schönheit und Poesie, hat seine Halbwertszeit und muss irgendwann Neuem weichen. Und dass dieses Neue in Alcarràs eine gesellschaftliche Notwendigkeit ist, die nicht ohne (persönliche) Opfer zu bekommen ist, dass also die Ambivalenzen des Fortschritts aufgezeigt werden, ist nur ehrlich. Wenn die Kamera am Ende des Films die Gesichter der Solés fixiert, während sich das Unausweichliche ankündigt, möchte man diesem ans Herz gewachsenen Familienraumschiff nur eines wünschen: einen guten Flug.Placeholder infobox-1