Es braucht Verve, eine Komödie über die Tücken des durchdigitalisierten 21. Jahrhunderts zu drehen und dabei nicht nur mit Klischees zu jonglieren. Sicher: Man kann das völlig bescheuert finden, was das französische Regieduo Benoît Delépine und Gustave Kervern in Online für Anfänger abfackelt, oder eben auch zum Schreien komisch. Konsequent ist es in jedem Fall, den stylischen Oberflächen des digitalen Kapitalismus mit auf den ersten Blick oberflächlichen Absurditäten an den Kragen zu gehen.
Auf der Berlinale 2020, wo Online für Anfänger Premiere feierte und mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde, war die Gesellschaftssatire ein angenehmer Kontrast zur doch gerne betonschweren Wettbewerbskost. Bei Delépine und Kervern kippt die Gesellschaftskritik um in eine boulevardeske Nummernrevue mit einfältig-sympathischen Figuren. Der deutsche Verleihtitel ist leider völlig daneben, spielte doch der viel treffendere Originaltitel Effacer l’historique auf einen Prozess an, der im Cloud-Zeitalter unmöglich geworden scheint: Verlauf löschen.
Online für Anfänger erzählt davon, was es heißt, die Kontrolle über sich und seinen eigenen Verlauf verloren zu haben. Marie (Blanche Gardin) hält sich nach der Trennung vom Ehemann mit dem Online-Verkauf ihres Mobiliars über Wasser und wird von einem betrunkenen One-Night-Stand erpresst, mit einem Amateurporno im Internet zu landen, wenn sie nicht zahlt. Die ehemalige AKW-Sicherheitsfrau Christine (Corinne Masiero) hat infolge ihrer Seriensucht, konkret der sechsten Staffel von Dr. House, ein radioaktives Leck übersehen und verdingt sich jetzt als erfolglose Uber-Fahrerin. Was gegen die schlechten Bewertungen tun? Bertrand (Denis Podalydès ) wiederum verliebt sich in die Stimme einer Callcenter-Agentin aus Übersee und kämpft mit Facebook gegen die Veröffentlichung eines Videos, in dem seine Tochter Opfer von Cyber-Mobbing wurde.
Tech-Giganten, Clouds, Social Media, AirBnB, Smartphone-Diktatur: Das Regieduo lässt keinen „Eckpfeiler“ des menschlichen Daseins im 21. Jahrhundert aus. Auch wenn nicht jeder Gag zieht, ist die Frequenz des Films hoch. Sie alle, Marie, Christine und Bertrand, haben es mit ihrer digitalen Abhängigkeit ins Prekariat „geschafft“. Sie sind chronisch pleite, kleben tagein, tagaus an ihren Smartphones, in Telefonwarteschlangen irgendwelcher sauteuren, „kostenlosen“ Hotlines oder lassen sich gratis Antivirenprogramme für 14 Euro im Monat andrehen.
Man findet sich überall wieder in diesem dann doch gar nicht so absurden Kuriositätenkabinett: wenn Christine – herrlich, wer hat sich da nicht schon drüber geärgert! – beim Captcha-Lösen alle Ampeln im Bild anklicken muss, wenn der arme Lieferbote von „Alimazon“ gehetzt die Sixpacks Wasser aus dem Rucksack zieht oder wenn Marie mit einem Ladegeräteknäuel durch die Wohnung tigert: „Hitachi? Nein. Motorola? Nein ...“ Man versteht nur zu gut, dass Christine eines Tages die Mitte des Kreisverkehrs ansteuert, wo das Trio früher mit den Gelbwesten gestreikt hat („Wir sind da!“), auf das Autodach klettert und einfach nur losbrüllt.
Später erklären die drei den Tech-Konzernen den Krieg. „My pussy is in the cloud. I want my pussy back!“, brüllt Marie vor den Toren einer gewaltigen Serverfarm im Silicon Valley. Ein hilfsbereiter Hacker, zu dem das Trio pilgert, haust in einem Windrad und nennt sich, wie könnte es auch anders sein: God.
Online für Anfänger zieht genüsslich die Schattenseiten der digitalen Gesellschaft durch den Kakao. Eine Sehnsucht zum Analogen? Die schwebt im Film mit, doch machen es sich Delépine und Kervern nicht so leicht, in falsche Naturromantik zu verfallen. Als Bertrand einen Esel trifft, beißt der ihm fast die Hand ab. Obacht!
Info
Online für Anfänger Benoît Delépine, Gustave Kervern, Frankreich/Belgien 2020, 110 Minuten
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