Ein lettischer Metzger auf Arbeitssuche in Belgien? Bei Oleg muss man unweigerlich auch an die hiesigen Schlachthöfe denken, die es 2020 im Zuge der Coronapandemie als Virustreiber erneut in die Schlagzeilen geschafft haben: fragwürdige Hygienebedingungen, menschenunwürdige Lebensumstände und ausbeuterische Entlohnung für zumeist aus osteuropäischen Ländern kommende Arbeiter*innen. Yulia Lokshina hat die Menschen und ihre systemisch prekären Anstellungsverhältnisse in ihrem Dokumentarfilm Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit entlang des Fabrikzauns von Tönnies eindringlich porträtiert – einer der vielen Filme, die coronabedingt zu wenig Echo erfahren haben (der Freitag 43/2020).
In Juris Kursietis’ Spielfilm Oleg nun verschlägt es den Helden in einen belgischen Schlachtbetrieb: hinein in die weiß gekachelten, kalten Räume, in denen Oleg (Valentin Novopolskij) mit Kollegen aus Polen und Rumänien Schweinehälften zerkleinert. Hier, weit weg von der Heimat und der Oma, der er seinen schmalen Lohn schickt, erwartet ihn statt der ersehnten finanziellen Unabhängigkeit eine Abwärtsspirale, personifiziert durch den Arbeitsvermittler Andrzej (Dawid Ogrodnik), der sich zunächst als helfender Freund gibt, als Oleg seinen Metzgerjob verliert.
Kursietis hat einen düsteren Film über die Mechanismen der modernen Sklaverei gedreht. Selten wird von diesen Menschen erzählt, die auf der Suche nach einem neuen Leben in tatsächlich sklavenähnliche Abhängigkeitsverhältnisse gedrängt werden. So auch Oleg, der seinen „Alien-Pass“, wie er seinen Ausweis mit der eingeschränkten Arbeitserlaubnis einmal nennt, gegen einen von Andrzej gefälschten polnischen Pass eintauscht, um für ihn arbeiten zu können. Was bleibt jemandem, der nicht geduldet ist und arbeiten will, ja muss, anderes übrig? Nicht viel, so sehr man sich auch über die Blauäugigkeit, mit der Oleg in Andrzejs offene Messer rennt, wundern und ärgern mag.
Aus der Dynamik der beiden grundverschiedenen Typen zieht Kursietis’ Film eine abstoßende Kraft: der schweigsame, manchmal gewiefte, oft in seiner Verzweiflung naiv handelnde Oleg und Andrzej, den Ogrodnik zwischen kumpelhafter Witzelei und cholerisch-aggressivem Haudrauf spielt. In einem Augenblick skyped er mit der Tochter, die eine „große Prinzessin“ geworden ist, und lädt seine Arbeitertruppe, mit der er unter einem Dach lebt, zu Wodka ein, um im nächsten auszurasten und sie, allen voran Oleg, zu tyrannisieren.
Nicht Metzger, sondern Lamm
Der Metzger wird in Kursietis’ Film zum Lamm auf der Schlachtbank. Ein an sich eindringliches Bild, das der lettische Regisseur etwas zu gewollt mit einem biblischen Fundament unterfüttert. In traumartigen Sequenzen kämpft Oleg unter der Eisdecke eines zugefrorenen Sees gegen das Ertrinken an, während auf der Tonspur sakrale Klänge wabern. Das ist eine Spur zu dick für diesen Film, der ansonsten von seinem Sozialrealismus lebt. Bogumil Godfrejows nervöse Handkamera ist nah dran an dem Arbeiter auf seiner Hatz von Gent nach Brüssel, in Andrzejs Haus, in dem er mit den anderen Arbeitern FIFA auf der Konsole spielt, trinkt oder sich mit Andrzejs Freundin Malgosia (Anna Próchniak) unterhält. Und wenn Oleg in einem Moment der größten Unsicherheit von dem Kleingangster mit Pistole in einen Wald getrieben wird, um das Schießen zu lernen. Es ist ein ständiges Hin und Her zwischen vermeintlichen Sicherheiten und Angst.
Das Bild, das Kursietis hier anhand des Einzelschicksals seines Helden zeichnet, ist bitter: Neosklaven, die sich in gebrochenem Englisch durch die Fremde hangeln, um nach existenzsichernden Strohhalmen zu greifen. Oleg zeigt die Albtraumseite des vom Kapitalismus getriebenen Europas.
Kursietis’ Film startet am 22. März als „Film des Tages“ bei Mubi. Mit seinem Fokus auf Arthouse-Produktionen und randständigere Werke ergänzt der Streaminganbieter seit einigen Jahren das Angebot von Netflix und Co. und bietet bewusst den „kleineren“ Filmen des Arthouse-Kinos eine Plattform. Sieht man Amazon, Netflix und so weiter als Discounter mit gewaltig budgetiertem Überangebot, ist Mubi dagegen der Feinkostladen mit begrenztem, dafür erlesenem Angebot, so das geschickt gesetzte Marketingnarrativ des in London beheimateten und in New York, Kuala Lumpur und Mumbai vertretenen Unternehmens. Ein sozialkritischer Film wie Oleg, der mit seiner handkameraverwackelten, auf Authentizität setzenden Ästhetik mit dem Dokumentarfilm schwanger geht, passt perfekt ins Portfolio. Vor allem auch, weil Mubi sich die Diversität auf die Fahnen geschrieben hat. Mal unabhängig von den coronabedingten Kinoschließungen gefragt: Ob es der lettische Film nach der Premiere in der „Quinzaine des Réalisateurs“ 2019 in Cannes überhaupt jemals auf die deutschen Leinwände geschafft hätte?
Info
Oleg Juris Kursietis Lettland 2019, 108 Min., ab 22. März bei Mubi
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