Sooft es heißt, dass die Kunst des Kinos darin besteht, mit Bildern zu erzählen, so selten geht es dabei um den Menschen, der diese Bilder aufnimmt: den Kameramann bzw. die Kamerafrau. Sie fungieren als eine Art Übersetzer, die die Ideen von Drehbuch und Regie in Kinobilder übertragen. Wenn sie gut sind, erzählen sie dabei etwas, das darüber hinausgeht.
Die Französin Hélène Louvart beherrscht diese Kunst in unaufdringlicher Perfektion. Ihre Arbeit zeigt dabei, wie wichtig gerade der weibliche Blick hinter der Kamera für das Kino ist. Mit gleich zwei Filmen war Louvart im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale vertreten: dem amerikanischen Indiefilm Never Rarely Sometimes Always – der mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet
Jury ausgezeichnet wurde – und dem brasilianischen Todos os Mortos. Dort sagte sie auch etwas, das ihre Kunst auf den Punkt bringt: „Wenn wir die Schönheit der Bilder sehen, ist das nicht gut. Man muss sie fühlen.“Dieser Gedanke wird schmerzlich konkret in Eliza Hittmans Never Rarely Sometimes Always, der wegen der Kinoschließungen in den USA nur als „Video on Demand“ starten konnte und voraussichtlich erst im Herbst ins Kino kommt. Hittman erzählt darin von einer ungewollt schwangeren Teenagerin, die nach New York fährt, um abzutreiben. Louvart fotografiert die Geschichte in schmucklosen, dadurch aber umso ehrlicher wirkenden Bildern und changiert mühelos zwischen Naturalismus und filmischen Momenten. Der Film braucht kaum Worte, um das in den USA hoch aufgeladene Thema zu artikulieren. Und doch: Kaum je wurde auf derart harte, rührende und vielschichtige Weise von einer Abtreibung erzählt.Natürlich hat ein solches Gelingen immer auch mit der Chemie zwischen Regie und Kamera zu tun. Mit Hittman und Louvart scheinen sich zwei Schwestern im Geiste gefunden zu haben, denn die Kamerafrau hat auch Hittmans Vorgängerfilm Beach Rats gefilmt. Der handelte von einem Jugendlichen, der seine heimlichen homosexuellen Neigungen beim Cruisen mit anderen Männern auslebt. Die Kamera folgt dem unnahbaren Außenseiter mit zärtlicher Distanz; sie erkundet physische Männlichkeit, indem sie die muskulösen, verschwitzen Oberkörper der Macho-Clique abtastet. Louvarts Blick auf Körperlichkeit ist dabei ein empathisch-weiblicher: voller Faszination und auch gelegentlich explizit, ohne voyeuristisch zu sein.GrenzgängerinBereits seit den späten 1980er Jahren ist die 1964 Geborene hinter der Kamera aktiv. Louvart hat über 100 Filme gedreht, Fernseharbeiten, Dokumentar- und Spielfilme. Technisch bleibt sie, je nach Stoff und Budget, ebenfalls beweglich, sie realisierte Filme in Super-16mm, 35mm und in modernden Digitalformaten. Ihre Filmografie weist namhafte Regisseure aller Generationen auf: Für ihre Landsfrau Agnès Varda, der „Mutter der Nouvelle Vague“, fotografierte sie den autobiografischen Dokumentarfilm Die Strände von Agnès. Mit der Italienerin Alice Rohrwacher, einer der weiblichen Entdeckungen der letzten Jahre, arbeitete Louvart seit deren Langfilmdebüt Für den Himmel bestimmt zusammen, zuletzt auch für Glücklich wie Lazzaro. Mit Claire Denis drehte sie Mathilde Monnier: Ein Leben für den Tanz, eine dokumentarische Annäherung an die französische Choreografin.Der Tanz verhalf Louvart denn auch zu Prominenz, als sie Pina, Wim Wenders’ preisgekröntes filmisches Denkmal für die 2009 verstobene Tänzerin und Choreografin Pina Bausch, fotografierte. Pina ist ihr erster und bislang einziger 3-D-Film. Und er ist ein Paradebeispiel dafür, wie man den Apparat in den Dienst des Gegenstandes stellt, denn, darin waren sich viele einig: Selten hat die gerne inflationär verwendete 3-D-Technik mehr Sinn gemacht als hier.Ob in größeren Produktionen wie Pina oder kleineren: Louvart ist eine Grenzgängerin. Auch ganz buchstäblich, denn die Kosmopolitin war neben französischen und amerikanischen Produktionen an spanischen, katalanischen, italienischen, norwegischen, argentinischen oder wie zuletzt an brasilianischen beteiligt. In jederlei Hinsicht aufsehenerregend ist ihre Zusammenarbeit mit Karim Aïnouz. Für den in Deutschland lebenden, brasilianisch-algerischen Regisseur fotografierte sie im letzten Jahr Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão, eine Geschichte um zwei Schwestern im Rio de Janeiro der 50er Jahre. Es ist unter anderem ein Epos gegen toxische Männlichkeit. Wenn Aïnouz seinen Film als „tropisches Melodram“ beschreibt, trifft das den Nagel auch in visueller Hinsicht auf den Kopf: Die satten, vor Farben nur so flirrenden Bilder lassen den Schweiß in diesen glühenden Breitengraden förmlich riechen. Louvarts Bilder hier transzendieren das Körperliche; sie wirken suchend, sind aber doch auf den Punkt komponiert, empathisch und zugleich rücksichtsvoll distanziert. Sie nehmen in den Bann, ob temperamentvoll leuchtend oder in dokumentarischer Nüchternheit. Schön sind sie immer, aber auf eine sehr eigene Art und Weise. „Wir verändern die Wirklichkeit, wenn wir filmen“, erklärte die Französin. Ganz ohne „beauty shots“ oder visuelle Spielereien erzeugt sie Wirklichkeiten, die den jeweiligen Geschichten dienen.Gerade im Bereich der technischen Berufe erscheint die ohnehin immer noch sehr männliche Geschichte des Kinos oft noch männlicher. Erst 2018 wurde die erste Frau – Rachel Morrison für Mudbound – für einen Kameraoscar nominiert. Dabei gilt für das Kino wie für jede andere Kunst auch: Diversität ist Motor und Türöffner zugleich. Ein männlicher Blick öffnet andere Welten als ein weiblicher oder ein queerer. Weshalb man die kinolose Zeit gut dafür nutzen kann, einmal Filme mit großartigen Bildgestalterinnen nachzuholen, wie etwa Claire Mathon (Atlantique, Porträt einer jungen Frau in Flammen), Ellen Kuras (Coffee and Cigarettes, Vergiss mein nicht!), Maryse Alberti (The Wrestler) oder Caroline Champetier (Von Göttern und Menschen, Holy Motors). Und Hélène Louvart.