Es gibt einen ganz eigenen Sound in diesem Film, eine Art wunderbare Kakophonie, die sich zusammensetzt aus Meeresrauschen, Segelflattern, Möwengesängen und dem Knarzen der Seile auf der Segelyacht, auf der Helene Wittmanns zweiter Film Human Flowers of Flesh größtenteils spielt. Gesprochen wird wenig, und wie schon in Wittmanns Debütfilm Drift ist das Meer zentral: das Schaukeln durch die Wellen, mal eingefangen durch ein Schiffsbullauge, mal von Deck, wo die Crew faulenzt oder aus Werken wie Friedrich Glausers Gourrama oder Marguerite Duras’ Der Matrose von Gibraltar liest, Bücher, die sich mit der Fremdenlegion auseinandersetzen.
Wittmanns Filmfolgt Ida (Angeliki Papoulia) und ihrer fünfköpfigen Besatzung auf einer Segeltour über das Mit
esatzung auf einer Segeltour über das Mittelmeer von Ort zu Ort, von Bucht zu Bucht. „Niemand weiß viel über sie. So ein Leben bedeutet viel Freiheit. Man ist immer in Bewegung, immer im Fluss“, beschreibt jemand die Segelcrew und gibt damit zugleich einen Kommentar ab über diesen Film, der wenig über sich und seine Figuren verrät, der in absoluter Freiheit schwelgt und in ständiger Bewegung bleibt. Ein moderner Abenteuerfilm, der sich jenseits gängiger Erzählmuster zu einem sinnlich-assoziativen Rausch entwickelt.Abenteuer FremdenlegionDie französische Fremdenlegion bildet das strukturierende Thema des Films. Nachdem Ida in Marseille damit in Kontakt kommt, begibt sie sich mit ihrem multinationalen Expeditionstrupp auf die Spuren der Legionäre. Über Korsika geht es in die algerische Stadt Sidi bel Abbès. Hier, wo sich bis 1962 das Hauptquartier der Fremdenlegion befand, trifft Ida auf einen von Denis Lavant gespielten Fremdenlegionär. Sie folgt ihm aus einem Café in seine Wohnung, wo er mit Frühstückseiern jongliert und singt. Ein irrer Kurzauftritt, in dem sich die Hommage an Claire Denis’ Beau Travail, die Human Flowers of Flesh eingeschrieben ist, auch personell manifestiert, spielte Lavant doch schon in Denis’ Klassiker den ikonischen Feldwebel Galoup.Human Flowers of Flesh ist auch eine Reise gegen Erzählkonventionen und -hierarchien. Mensch und Natur wirken, wie der Titel bereits andeutet, gleichberechtigt miteinander. Da sind sagenhafte Bilder, etwa von einer Spinne, die ihr Opfer umgarnt oder jene Unterwasseraufnahme, in der Mikroorganismen durch das Bild tanzen. Wenn die Kamera auf dem Meeresgrund ein völlig mit Moos bedecktes Militärflugzeug entdeckt, dann ist man geneigt zu sagen: Hier berührt die Natur auf poetische Weise grausame menschliche Geschichte. In einer wie im Cyanotypie-Verfahren entstandenen Szene ist eine duschende Frau zu sehen und es wirkt, als befinde sie sich in einer surreal anmutenden Unterwasserwelt.Wittmann macht Assoziationsräume auf: zum Verhältnis von Mensch und Natur, zur Kolonialgeschichte, die sich in den Bezügen zur Fremdenlegion manifestiert und dazu, wie der filmische Raum eben nicht gefällig mit bekannten Dramaturgien jonglieren, sondern so anregend wie herausfordernd sein kann. Nicht umsonst wurde die deutsch-französische Koproduktion auf dem Filmfestival in Locarno in die nur zehn Filme umfassende Auswahl „Films After Tomorrow“ aufgenommen.Eingebetteter MedieninhaltHuman Flowers of Flesh folgt jenem sinnlichen und zugleich radikalen kinematografischen Ansatz, den die 1982 im nordrheinwestfälischen Neuss geborene Filmemacherin und Künstlerin bereits in Drift vorgab. Auch dort versöhnte Wittmann Spiel- mit Experimentalfilm und erzählte mehr assoziativ denn narrativ von zwei Frauen, die ein Wochenende gemeinsam verbringen; Strandspaziergänge, ein Fischbrötchen am Imbiss. Das Meer ist allgegenwärtig. Auf einer Atlantiküberfahrt nach der Trennung der Frauen überantwortet Wittmann in einer zwanzigminütigen Sequenz den Wellen Psychologie, Raum und Zeit. Der deutsche Film: besser als sein RufDrift lief auf zahlreichen renommierten internationalen Festivals und ist für die große Leinwand gemacht; einen deutschen Kinostart hatte der Film jedoch nicht. Die Arthouse-Streamingplattform Mubi nahm ihn schließlich ins Programm. Darin zeigt sich ein wesentliches Problem: die Sichtbarkeit hierzulande. Wenn es um den deutschen Film geht, wird oft gemeckert, gerne natürlich über die deutsche Filmförderung. Das deutsche Filmfördersystem, das, mit Regisseur Edgar Reitz gesprochen, den „deutschen Gremienfilm“ befördert, lasse zu selten Platz für das Experiment, für formalästhetische Radikalität, für ein Kino, das eben nicht klassische Sehgewohnheiten bedient, heißt es immer wieder. Die Filmförderstrukturen seien eingerostet, die Koproduktionsbedingungen mit den wichtigen Landesrundfunkanstalten und ihren gerne in die Stoffe eingreifenden Redaktionen schwierig.Doch bei all der berechtigen und wichtigen Kritik am aktuellen Filmfördergesetz: Der deutsche Film ist besser als sein Ruf! Wer daran zweifelt, sollte neben den üblichen Verdächtigen eben auf den Nachwuchs schauen, der viel zu oft unter dem Radar läuft. Auf Regisseurinnen wie Annika Pinske, die mit ihrem Spielfilmdebüt Alle reden übers Wetter einen tollen Film über das Stadt-Land-Verhältnis gedreht hat. Oder auf Pia Hellenthal, deren dokumentarfilmisches Debüt Searching Eva furios von Identität(en) in unserer digitalen Normalität erzählt.Und eben auf Helena Wittmann. Ihrem neuen Filmkunstwerk möchte man die größtmögliche Aufmerksamkeit wünschen. Human Flowers of Flesh ist ein reicher, bild- und bedeutungsgewaltiger Film. Es gilt nur – und das sollte auch dem jungen deutschen Film wesentlich öfter widerfahren – genau hinzuschauen und zu staunen.