Sie scheinen wie aus einer anderen Welt, die Bilder vom Berliner Landwehrkanal: 3.000 fröhlich tanzende Menschen an den Ufern und auf rund 400 Booten, dazu laut wummernde Technomusik, ein fröhlich-friedlicher Exzess, Körper an Körper ohne Sicherheitsmasken. Eine Wasser-Love-Parade in Corona-Zeiten? Mit der eigentlich für 100 Teilnehmer angemeldeten Party-Demo wollte das Kollektiv „Rebellion der Träumer“ gegen das Clubsterben demonstrieren. Am Ende musste der Rave von den überforderten Veranstaltern und der Polizei beendet werden. Da keine Anzeigen erstattet wurden, sind Gäste und Veranstalter mit einem blauen Auge davongekommen.
Doch was bleibt, ist, bei allem Verständnis für die lange angestaute Partylust, Kopfschütteln. Die Clubszene, die sich in der mittlerweile europaweiten Spendenkampagne United We Stream zusammengeschlossen hat, hat sich vehement von der Party-Demo distanziert. Dass die Veranstaltung auch noch ausgerechnet vor den Türen des Kreuzberger Klinikums Am Urban ihren Endpunkt erreichte, wirkte zudem noch wie bloßer Zynismus.
So bitter das für die existenzbedrohte Clubszene ist und so sehr das dem geneigten Raver die Sehnsuchtstränen in die Augen treibt: Die Zeiten gebieten, die Füße still zu halten. Die Intimität und der Exzess des Nachtlebens sind im Moment ein rotes Tuch. Während Kinos, Theater, Konzert- und Ausstellungshäuser unter strengen Auflagen in diesen Tagen zumindest teilweise wieder öffnen können – die prekäre Situation der ohnehin wirtschaftlich eng gestrickten Kultureinrichtungen mal außen vor gelassen –, ist für die Clubkultur noch kein Land in Sicht. „Wir sind neben den Bordellen die Letzten, die wieder aufmachen dürfen“, fasst es Matthias Morgenstern, Inhaber des Frankfurter Technoclubs Tanzhaus West, nüchtern zusammen. Da es völlig ungewiss ist, wann wieder „klassisch“ gefeiert werden darf, bleiben den Tanzwütigen zurzeit nur Ersatzbefriedigungen wie die Live-Streams der United-We-Stream-Kampagne oder die etlichen Filme und Serien, in denen die Nacht zum Tag wird – die zugleich ein beredtes Zeugnis davon ablegen, wie Techno- und Clubkultur inzwischen als narrativer Gemeinplatz eingesetzt werden. Authentische Darstellungen sind nach wie vor eher rar – aber es lohnt sich, an sie zu erinnern.
Hedonisten in trouble
Bei Netflix etwa ist mit White Lines vom Haus-des-Geldes-Macher Álex Pina vor Kurzem eine Serie gestartet, die in Teilen in der Elektroszene spielt. Auf zwei Zeitebenen geht es einerseits um den DJ Axel (Tom Rhys Harries), der Ende der 1990er Jahre von Manchester aus mit seiner Musik auf Ibiza durchstarten will, und andererseits um seine Schwester Zoe (Laura Haddock), die zwanzig Jahre später auf die legendäre Hedonisteninsel kommt, nachdem die mumifizierte Leiche ihres getöteten Bruders aus dem Sand der Wüste von Almería gezogen wird. Was ist geschehen?
In White Lines wird aus der Beantwortung dieser Frage eine überdrehte Geschichte aus Drogengeschäften, Crime-Drama und Familiensaga mit Telenovela-Anleihen gesponnen. Die Farben sind knallig, Koks und andere Drogen gibt es in rauen Mengen, die Alt-Raver sind vom Leben gezeichnet. Und die jungen Raver träumen von verrauschten Dauerpartys. „Hatten Sie jemals Spaß? Ich meine, so eine richtig gute Zeit?“, fragt Axel den Richter von der Anklagebank aus.
Álex Pinas Exzess in Seriengestalt betont, was ohnehin evident ist: Clubs und EDM (Electronic Dance Music) sind völlig im Mainstream angekommen. Mal bezogen auf Technoland Deutschland: Was nach dem Mauerfall von Frankfurt nach Berlin rüberschwappte, zum Soundtrack und Lebensgefühl einer Subkultur avancierte, die mit scheppernden Soundsystemen und Plattenspielern leer stehende (Industrie-)Gebäude in improvisierte Clubs verwandelte, und was dann beinahe umgehend durchkommerzialisiert wurde, gehört heute zur sogenannten Mitte der Gesellschaft. Keine Spur mehr von Underground und Subkultur, wie auch genannte Kampagne zeigt. Die Szene ist ein großer wirtschaftlicher Faktor und bietet zugleich den Nährboden für Geschichten.
Letzteres verwundert nicht, hat sie doch bis heute etwas Faszinierendes und Geheimnisvolles: mit der treibenden, auf den Körper zielenden Musik mit den gleichbleibenden Beats und – eine aktuelle Entwicklung – Breakbeats; mit dem Soundfetischismus auf der einen Seite, der sich in hochtechnisierten Soundanlagen à la Function One entlädt, und dem (gerne auch drogeninduzierten) Exzess auf der anderen, der von Pre-Party über Partynacht hin zur Afterhour und zur After-Afterhour reichen kann. Befeuert wird die Faszination noch vom Leben im Moment in den geschützten Szenelokalitäten: „No Photos! What happens in the Club, stays in the Club!“
Bei diesen Vorzeichen liegt die gerne betriebene Mythenbildung auch in filmischer Hinsicht freilich auf der Hand. In deutschen Produktionen wird überdies oft auch der Mythos um Berlin als Club-Mekka der Bundesrepublik weiter genährt. Etwa in dem Dokumentarfilm Berlin Bouncer (2019), in dem David Dietl die drei stadtbekannten Türsteher Frank Küster, Smiley Baldwin und Sven Marquardt, den prominentesten in der Runde, porträtiert. Letzterer hütet das Berghain, die „härteste Tür Europas“ und damit den seit Jahren mühe- und liebevoll kultivierten Kern aller Techno-Mythen. Auch Berlin Bouncer zeigt keine Bilder aus dem Berghain, überhaupt spielen die Partys und die Musik kaum eine Rolle. Es geht um die drei Männer vor der Tür, die „Exzessbetreuer“, deren eigene Sozialisation ganz unmittelbar verbunden ist mit der Geschichte der Stadt.
Wirklich eingetaucht in die Clubkultur mit ihren Protagonisten hinter den Decks ist Dokumentarfilmer Romuald Karmakar. Der in Wiesbaden geborene Regisseur ist seit Jahren als Feldforscher in der Techno- und Elektroszene unterwegs, etwa im Rahmen seiner Club Land Trilogie: In 196 BPM (2003) beobachtete er die Berliner Love Parade 2002 in drei Plansequenzen, in Between the Devil and the Wide Blue Sea (2005) diverse Auftritte von Bands aus der internationalen Elektroszene und in Villalobos von 2009 porträtierte er den heute weltbekannten DJ Ricardo Villalobos.
Ohrenzeugen
Letzterer gehört auch zu den Protagonisten von Karmakars bisher letztem Dokumentarfilm Denk ich an Deutschland in der Nacht (2017). Darin spinnt der Regisseur aus den Geschichten der DJs Ata, Roman Flügel, Sonja Moonear, David Moufang (Move D) und eben von Villalobos einen mehrstimmigen Bewusstseinsstrom aus Musik und Erzählungen. Während der Clubszenen mit den schwitzenden Ravern, den Strobolichtern und Visuals dringt Karmakar in einen Kern der Technomusik vor, wenn er uns bei der Produktion eines Live-Sets mithören lässt: Wie schon in Villalobos wird gelegentlich der Kopfhörersound der DJs ausgegeben, wodurch man Ohrenzeuge des sogenannten Beatmatchings wird, also des rhythmischen Zusammenkittens zweier Songs.
Music Is The Key lautete das Motto der Love Parade von 1999. Es sollte auch für die Repräsentation der Clubszene in Spielfilmen dienen, denn: Eine glaubwürdige Darstellung gelingt oft dann, wenn sich mit der Musik auseinandergesetzt wurde und sie Teil der Inszenierung wird.
Nehmen wir etwa die Eröffnungssequenz von Sebastian Schippers One-Take-Rausch Victoria: Da schleicht die Kamera langsam durch einen Club, im Halbdunkel zuckende Leiber, rhythmisiert durch Stroboskopgewitter und DJ Kozes düster treibendes Burn With Me. Obwohl Club und Exzess nur eine Hintergrundrolle spielen im von einer Liebesgeschichte und einem Bankraub angetriebenen Plot von Victoria, fängt diese Szene das Gefühl von Clubkultur derart auf den Punkt ein, wie man es selten auf der Leinwand zu sehen bekommt. DJ Kozes Beats stehen über den zunächst unscharfen Bildern und lassen uns so zuerst akustisch in den Club eintauchen und schließlich, als die Kamera die Titelheldin endlich gefunden hat, für einen Moment mit ihr erleben, was Techno ist: ein intimes Erlebnis im Kollektiv.
Musik ist der Schlüssel, auch in Hannes Stöhrs „Evergreen“ aus dem Jahr 2008, der im filmischen Techno-Gedächtnis nicht fehlen darf: Berlin Calling. Der Film erzählt die Geschichte eines DJs auf seinem holprigen, zwischen Drogen- und Beziehungseskapaden lavierenden Weg zum neuen Album. Für sein sozialrealistisches, angenehm unpädagogisches Psychogramm holte sich Stöhr mit Paul Kalkbrenner einen der prominentesten deutschen Vertreter der Elektroszene als Hauptdarsteller an Bord. Kalkbrenner steuerte auch noch den Soundtrack bei, der, gleich einem DJ-Set, die Dramaturgie als akustischer Resonanzraum unterfüttert.
Wenige Filme und Serien haben es bisher geschafft, das Milieu derart glaubwürdig einzufangen, wie Berlin Calling. Oft ist es nur hedonistische Staffage für reißerische Plots, wie in White Lines oder auch in der deutschen Serie Beat von Marco Kreuzpaintner. Dort entwickelt sich die Geschichte um einen dauerkoksenden Club-Promoter zu einer unterhaltsamen, allerdings auch abstruse Haken schlagenden Thrillerserie um Geheimdienstagenten, Organhändler, Flüchtlinge und wodkasaufende Russen. Und die Clubszenen wirken, trotz des Soundtracks mit Tracks namenhafter DJs wie Marcel Dettmann, Moderat oder Agoria, allenfalls wie Karneval. Es ist wie so oft bei der Darstellung von Milieus: Mit filmischer Überspitzung wird die Nische in einen größeren popkulturellen Diskurs und ergo in den Mainstream überführt. Das Ergebnis lässt Szenekenner dann meist die Augen rollen.
Umso mehr weiß man es dann zu schätzen, wenn jemand doch mal nahe dran ist. Oder, im Falle von Henning Gronkowskis Generation-Z-Porträt Yung, sehr nahe. Zwei Jahre war der Regisseur für sein im letzten Jahr erschienenes, radikales Spielfilmdebüt in den Berliner Technoclubs unterwegs, bis er schließlich seine Darstellerinnen Janaina Liesenfeld, Emily Lau, Joy Grant und Abbie Dutton gefunden hat. Die Frauen spielen sich mehr oder weniger selbst in Situationen, die sie selbst so oder so ähnlich erlebt haben. Der plotbefreite Film folgt wenigen dramaturgischen Linien und zeigt das immer gleiche Treiben: Partys, Drogen, Sex und Musik – der Exzess in konzentrischen Bewegungen. Den Soundtrack zum Film steuerte Techno-Urgestein Helmut Josef Geier alias DJ Hell bei. Music Is The Key. Ein wacher und aufgeschlossener Blick für Milieus ebenso.
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