Kühl kalkuliertes Monster

Kino Den Film „The Painted Bird“ schaut man nicht an, man setzt sich ihm aus
Ausgabe 38/2021

Auch wer den Glauben an die Menschheit bereits verloren zu haben meint, wird von The Painted Bird eines Heftigeren belehrt: Es geht immer noch schlimmer! Man muss durchwollen durch Václav Marhouls bildgewordenes Grauen, durch diese fast drei Stunden am Abgrund, in denen Unsägliches passiert: Menschen brennen und werden erschossen, einem werden die Augäpfel mit einem Löffel aus den Höhlen gerissen, eine nymphomanische Frau befriedigt sich mit einer Ziege und so weiter und so fort. Und das Schlimmste daran ist: Der Schrecken scheint kein Ende nehmen zu wollen.

Der tschechische Regisseur erzählt seinen Film, der beim Filmfest in Venedig 2019 Premiere feierte, in kleinen Kapiteln, benannt nach den Menschen, denen der namenlose sechsjährige Held (Petr Kotlár) auf seiner Odyssee begegnet. Es sind Miniaturen der Unmenschlichkeit, in denen der jüdische Junge vor dem Hintergrund des Naziüberfalls auf Polen das wohl grausamste Coming of Age der Filmgeschichte erlebt. Von dem einsamen Hof einer Bäuerin aus, bei der die Eltern ihn gelassen haben, streift er bald durch ein kriegsgeschundenes, albtraumhaftes Osteuropa, trifft abergläubische Bauern, einen brutalen Müller (Udo Kier), Pädophile, deutsche und russische Soldaten, einen Pfarrer (Harvey Keitel) und viele Weitere. Gutes wollen ihm die wenigsten.

Marhouls Film ist die Kontroverse quasi schon eingeschrieben. Streitbar ist nicht nur, was der Regisseur zeigt, sondern vor allem, wie. The Painted Bird wurde von Kameramann Vladimír Smutný in erhabenstem Schwarzweiß auf 35-mm-Film gedreht, jede Einstellung wirkt in ihrer perfekten Komposition wie ein schaurig-schönes Gemälde. Die alte Frage: Darf Gewalt derart ästhetisiert werden? Auch wenn der Regisseur vieles nicht explizit zeigt, sondern der Tonspur und unserer Fantasie überlässt, provoziert er diese Frage in seinem so hochprominent besetzten Werk, das seinen Anspruch auf Singularität in der Filmgeschichte regelrecht vor sich herträgt.

Schon die gleichnamige Romanvorlage des polnisch-jüdischen Schriftstellers Jerzy Kosiński aus dem Jahr 1965, auf der Marhouls Film basiert, wurde heftig kritisiert: für die beschriebene Gewalt und, mehr noch, weil Kosiński zu Unrecht behauptete, darin eigene Erfahrungen zu schildern. Marhoul macht aus der Vorlage einen Film voll brutaler visueller Poesie, den man nicht anschaut, sondern dem man sich aussetzt. Über sieben Jahre soll er daran gearbeitet haben, dem schweigsamen Jungen, eindringlich gespielt von Petr Kotlár, können wir beim Älterwerden zusehen. Durch seine dunklen Augen beobachten wir den Schrecken, er ist wie der titelgebende Vogel, den ein Vogelfänger weiß anmalt, um dann zuzuschauen, wie er in der Luft von seinesgleichen zerpickt wird.

Marhouls Opus magnum will sich in eine Reihe stellen mit kontroversen Werken wie Die 120 Tage von Sodom, Pier Paolo Pasolinis ebenfalls kaum zu ertragende filmische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Faschismus, Gewalt und Sexualität, oder Elem Klimows Komm und sieh über den deutschen Vernichtungskrieg in Weißrussland. Nur was bleibt nach Marhouls Passionsweg durch die Hölle, bei dem in allen nur erdenklichen Formen durchdekliniert wird, dass die Welt von Hass und Gewalt durchzogen ist, dass auf die Unschuld der Jugend nur Brutalität folgen kann, Auge um Auge, Zahn um Zahn?

Anders gefragt: Wie viel Nihilismus verträgt das Kino, aller formalen Finesse zum Trotz? Diese Frage muss jeder, der sich The Painted Bird antun will, selbst beantworten. Ein wirklicher Lichtblick ist auch das leicht hoffnungsvolle Ende nicht, nach allem, was die Kinderaugen zuvor sehen mussten. Es gibt keine Erlösung, Marhouls Film ist ein kühl kalkuliertes Monster.

Info

The Painted Bird Václav Marhoul Tschechien/Slowakei 2019, 169 Minuten

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