Leben aus dem Müll

Dokumentarfilm In Accra, Ghanas Hauptstadt, landet Elektroschrott aus der ganzen Welt. Für die Armen zugleich Fluch und Segen
Ausgabe 31/2018

Kino dient auch als eine Art Schlüsselloch in eine andere Welt; es kann uns an Orte bringen, von denen wir nie zu träumen gewagt hätten, im Positiven wie im Negativen. Der Spielfilm ist da mit seinen mittlerweile fast unbegrenzten Möglichkeiten eine regelrechte Fantasiemaschine, oder kann es zumindest sein. Ganz anders der Dokumentarfilm, der als Spiegel der Wirklichkeit gern an seiner Wahrhaftigkeit gemessen wird. Diesem Anspruch wird Welcome to Sodom ohne Frage gerecht. Allerdings gerade dadurch, dass die Regisseure Florian Weigensamer und Christian Krönes nicht nur dokumentieren, sondern choreografieren und inszenieren.

Das Regieduo schickt den Zuschauer hinein in die Mülldeponie Agbogbloshie in der ghanaischen Hauptstadt Accra, in der jährlich 250.000 Tonnen illegal aus Europa und anderen Ländern verschiffter Elektroschrott landen. Buchstäblich mitten hinein in den Müll kriecht zu Beginn die Kamera und beobachtet, wie ein Junge (der ein Geheimnis hat, wie wir später erfahren werden) Lautsprechermagneten durch den Dreck zieht. Er sammelt kleinste Metallteile, für die er pro Kilogramm bezahlt wird. Es ist sein täglich Brot an diesem Ort, der von den rund 6.000 dort Lebenden und Arbeitenden Sodom genannt wird, in Anlehnung an den biblischen Sündenpfuhl, den Gott unter einem Regen aus Schwefel und Feuer begraben haben soll.

Der Name kommt nicht von ungefähr, die Deponie ist ein Ort des Feuers: In einem organisierten Inferno schmelzen die Recyclingarbeiter dort alte Kabel, um so an die Rohstoffe zu kommen, die sie verkaufen können. Überall Müll und Qualm, dem die arbeitenden Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen permanent ausgesetzt sind, die schlechten hygienische Bedingungen fördern Krankheiten wie Cholera und Malaria. Agbogbloshie ist die unterste Station eines perfiden Kreislaufs, zugleich Friedhof und Geburtsort für Computer, Tablets, Smartphones und eben allen Elektro-Schnickschnack, der unseren Alltag bestimmt. Ein Wirklichkeit gewordener Unort, der, und davon erzählt Welcome to Sodom, eindrücklich und nachhaltig eine Metapher ist für die Kehrseite der globalisierten Welt mit ihren Überflussgesellschaften.

Die Deponie als Heimstatt

Die große Kunst von Christian Krönes und Florian Weigesamer ist es, dass sie sich dem Schrecken nähern, ohne in den Modus des Betroffenheitskinos zu verfallen. Dafür loten sie die Grenzen des Dokumentarfilms aus und setzen den Ort und vor allem seine Bewohner in Szene und geben ihnen eine Stimme. Verschiedene Protagonisten kommen zu Wort, neben dem Kleinmetallsammler etwa der Herr der Feuerstelle, der Isolierungen von den Kabeln abbrennt, ein Müllsammler, der mit einem Karren herumzieht, oder eine Frau, die Wasser in Plastiksäckchen verkauft. Man sieht sie allerdings nicht in Interviewsituationen, sondern ihre Stimmen ertönen abwechselnd aus dem Off. In pointierten, poetischen Erzählungen reflektieren sie ihr Leben und die Deponie, für sie Fluch und Existenzgrundlage zugleich und trotz alledem auch ein Ort der Lebensfreude. „Dieser Ort frisst dein Leben auf“, heißt es einmal, „Sodom hat einen ganz eigenen Klang, den Klang der Arbeit“, ein anderes Mal. Es geht um den Alltag und die Sorgen – ein schwuler Flüchtling aus Gambia etwa versteckt sich aus Angst vor homophober Verfolgung –, um Träume und Pläne. Nach und nach öffnet sich dem Zuschauer diese Welt mit ihrer eigenen inneren Logik und ihren Hierarchien.

Das Gefühl des Unbegreiflichen und Unwirklichen, das die Regisseure nach eigener Aussage nicht losließ, findet in der ästhetischen Überhöhung im Umgang mit dem Ort und seinen Bewohnern seine Entsprechung. Die Kamera fängt das Geschehen in langen Einstellungen ein. Es entstehen Bilder, die sowohl große Einfühlung als auch Erschrecken erzeugen. Immer wieder tanzen da die Kabel im Feuer, während Ziegen auf Müllbergen „grasen“, auf denen auch Friseure Haare schneiden. Der Deponiesong Welcome to Sodom, zu dem die Leute feiern, entsteht in einem improvisierten Studio, ein Kind wird geboren, einmal reißen Arbeiter das Dach von einem ausrangierten Bus, zerlegen ihn bis auf das Gerippe. Denkwürdig auch die Szene, in der zwei Jungs auf einem alten Handy Urlaubsbilder finden und sich über den „weißen Mann“, der zu viel Freizeit hat, lustig machen. Die Kluft zwischen Schwarz und Weiß spielt durchgehend eine Rolle, einer der Porträtierten spart sein Geld, um legal nach Europa zu gelangen. „In diesem Afrika gibt es nichts mehr zu holen für uns“, erklärt er. Und überall blecken die Marken der „Global Players“, hier zerfledderte Nike-Schuhe, dort ein Mercedes-Stern an einem klapprigen Karren.

Welcome to Sodom (Untertitel: Dein Smartphone ist schon hier) ist eindringlich, ohne pädagogisch zu sein, und erzählt seine Geschichte auf gut recherchiertem, dokumentarischem Fundament. Manche Protagonisten entwickeln sich wie in einer Erzählung. Die Kamera fängt einmal das Spiegelbild eines Protagonisten auf der flirrenden Wasseroberfläche ein, während dieser über seine Identitätsprobleme spricht. Sicherlich werden sich die Regisseure den Vorwurf der Ästhetisierung des Elends anhören müssen. Das mag in anderen Händen ein moralisch heikles Unterfangen sein. In denen von Florian Weigensamer und Christian Krönes entsteht allerdings gerade dadurch ein wahrhaftiger und unlarmoyanter Blick in eine Welt, zu deren Bestehen wir alle beitragen. Der Blick durch dieses Schlüsselloch jedenfalls brennt sich in die Netzhaut.

Info

Welcome to Sodom Christian Krönes, Florian Weigensamer, Österreich 2018, 90 Minuten

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