„Anima: Die Kleider meines Vaters“: Papa im Cocktaildress

Kino Was ist eigentlich normal? In Uli Deckers Dokumentarfilm „Anima. Die Kleider meines Vaters“ arbeitet die Regisseurin ein Familiengeheimnis auf und befasst sich dabei mit Geschlechterfragen und den Wirrungen der Liebe
Ausgabe 42/2022

Kühn und mutig scheint schon das Anliegen, einen Dokumentarfilm über den zu Lebzeiten heimlich transvestierenden eigenen Vater und über Geschlechterfreiheit generell zu drehen. Konsequent ist es, das Vorhaben auch als formal queeren Trip zu inszenieren. So erweist sich Uli Deckers Anima: Die Kleider meines Vaters als echte filmische Wundertüte gegen die Konformität und darüber hinaus als so herrlich anarchisch, dass es schmunzeln macht. Neben berührenden Interviews mit Mutter und Schwester und anderen kontemplativen dokumentarischen Aufnahmen stehen grellbunte Animationen: eine introspektive Bildebene, die ins Innerste der Regisseurin Uli Decker führt, die sich als Kind einen Bart wünschte und im Film einmal als Ritterin gegen Drachen kämpft.

Dieser formale Eigensinn gibt der traurigen Familiengeschichte Leichtigkeit. Denn es muss hart sein, erst nach dem Tod des Vaters durch einen von Jugendlichen verschuldeten Fahrradunfall, nach Jahren des Sich-Fragens zu erfahren, warum der verschlossen und oft depressiv war. Für Regisseurin Decker lagen die Antworten in einer Kiste, die sie von ihrer Mutter Monika bekam. Darin: Frauenkleidung, Schminke, die im Karton ihrer ersten Schuhe aufbewahrt wurden, und das Tagebuch ihres Vaters Helmut.

„Warum müssen das alle wissen?“, fragt eine Frau aus Helmuts Bibelkreis recht zu Beginn des Films. Die Antwort, die Uli Decker mit ihrem Film darauf gibt: Weil das Unter-den-Teppich-Kehren, das Nichtsprechen, falsch ist. Helmuts jahrelang unterdrückte, meist nur in fremden Städten ausgelebte Neigung hat sich wie ein Schatten über die Familie gelegt. In seinem Tagebuch beschreibt er ein Feuerwerk der Gefühle, als er seiner Frau Monika endlich die Wahrheit sagen konnte. „Nie hätte ich ihn verlassen“, sagt Monika. Nachdem sie die Nachricht verdaut hatte, war sie mit ihrem Mann Kleider shoppen.

Decker erzählt Anima: Die Kleider meines Vaters nach einem gemeinsam mit Rita Bakacs verfassten Drehbuch als Spiegelung, als quasi Zwiegespräch mit dem Papa. Da sind auf der einen Seite Helmuts Tagebucheinträge, in denen er seine Geschichte vom Kriegs- über das Nachkriegsdeutschland bis in die Gegenwart in dem bayrisch traditionellen Dorf festgehalten hat. Er zog schon früh heimlich mütterliche Kleider an, deren Anordnung er abgemalt und ausgemessen hat, um wieder alles korrekt zurücklegen zu können. Sein Beruf als Lehrer verlangte, wie er schreibt, mehr denn „innerhalb gesellschaftlicher Normen“ zu leben. Er, der Bibelfeste, der als ausgewählter Ministrant stolz beim eucharistischen Weltkongress mitlief, verstand sich nicht als transsexuell, sondern er wollte „im Transvestieren der männlichen Rolle“ seiner Seele Freiheit verschaffen.

Rat: Lieber Nonne werden

Es ist eine Freiheit, die Vater und Tochter, ohne dass sie darüber sprechen konnten, verband. Decker reflektiert die Aufzeichnungen des Vaters mit Blick auf ihre eigene Sozialisation. „Werden wir nur zufällig in eine Form gepresst?“, fragt sie. Im Fernsehen seien es immer die Männer gewesen, die sagten, wo es langging. Decker selbst bekam – das muss man sich einmal vorstellen – von einem Therapeuten den Ratschlag, von der Liebe Abstand zu nehmen und lieber Nonne zu werden.

Eingebetteter Medieninhalt

Es steckt, auch wenn Anima alles andere als in Trübsal versinkt, eine unfassbare Tragik in den Ereignissen: in dem durch Konformitätszwänge befeuerten Schweigen, in der Tatsache, sein Selbst verstecken und verdrängen zu müssen und deshalb der eigenen Tochter, so nahe sie einem im Geiste auch war, zu Lebzeiten fern zu bleiben. Auch wenn ihre Familiengeschichte eine persönliche ist, erzählt Decker von universellen Unterdrückungsmechanismen durch konservative Geschlechtervorstellungen und einem archaischen Wertekanon generell.

Beim Filmfestival Max Ophüls Preis wurde Deckers Film von der Jury und vom Publikum als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet. Anima ist ein so humorvoll-punkiges wie ergreifendes Plädoyer für Freiheit und, wie Decker selbst es in Worte fasst: „Für mehr Zartheit und Verletzlichkeit“.

Anima. Die Kleider meines Vaters Uli Decker Deutschland 2022, 95 Minuten

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