Man darf sich hier getrost in ein mediterranes Lebensgefühl hineinsaugen lassen. Ganz buchstäblich, wenn die Kamera gleich zu Beginn von Paolo Sorrentinos Die Hand Gottes über das Meer auf Neapel zufliegt: Schnellboote, Möwen und die Stadt, die hier zur pittoresken Skulptur erhoben wird, bieten sich in der gleißenden Abendsonne dar. So abgedroschen das in dieser pandemischen Karussellfahrt mittlerweile auch klingen mag: Gerade in dieser Zeit macht ein solches Sehnsuchtskino noch sehnsüchtiger.
Wobei Kino nicht ganz stimmt, ist Sorrentinos Film doch eine Netflix-Produktion, die seit dem 2. Dezember auch in ausgewählten Kinos läuft und am 15. Dezember bei dem Streamer startet. Dennoch: Die Hand Gottes schreit geradezu nach der großen Leinwand, denn wie man das von dem italienischen Regisseur kennt, wimmelt auch sein neuestes, beim Filmfest in Venedig mit dem Silbernen Löwen ausgezeichnetes Werk von wunderbaren Bildern und kinematografischer Exzentrik. Wie sein opulenter La Grande Bellezza – Die große Schönheit oder seine päpstlichen Serienspektakel The Young Pope und The New Pope mit ihren aufwendigen Choreografien ist auch Die Hand Gottes ein audiovisuelles Fest, das aber im Vergleich doch eine Spur bescheidener daherkommt.
Bescheidener bedeutet nun bei Sorrentino freilich immer noch, dass es bunt, laut und tragikomisch zugeht. Es ist der Modus Operandi, um sich seiner eigenen Geschichte anzunähern. Denn Die Hand Gottes, der beworben wird als sein bisher persönlichstes Werk, ist genau das: eine filmische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, mit dem Lebensgefühl seiner Jugend im Neapel der 1980er Jahre. Die Hand Gottes ist dabei kein brav abgefrühstücktes Selbstporträt geworden, sondern ein assoziativer Film voller Leerstellen, dem das Erinnern formal eingeschrieben ist.
Wir folgen Sorrentinos Alter Ego, Fabietto, dem Filippo Scotti mit nuanciertem Spiel die Aura eines ruhigen Träumers verleiht, durch einen Plot, der weniger von der Vorwärtsbewegung als von dem Panorama lebt, das er eröffnet. Ein Lavieren und Pulsieren durch die Schlaglichter einer Jugend: Weil das Gerücht umgeht, dass Diego Maradona, „bester Fußballspieler aller Zeiten“, wie es im Filmvorspann heißt, zum Verein der Arbeiterstadt wechseln könnte, zittert ganz Neapel nervös vor Erwartung. Mittendrin Fußballfan Fabietto mit seiner Familie, ein Haufen liebevoll gezeichneter Exzentriker.
Familie von Originalen
Der Vater Saverio (Toni Servillo), ein kommunistischer Banker, liebt seine Streiche spielende Frau Maria (Teresa Saponangelo) innig, geht ihr aber dennoch fremd; die Schwester ist nie zu sehen, weil immer im Badezimmer; die angehimmelte Tante Patrizia (Luisa Ranieri), die an ihrer Kinderlosigkeit leidet, genießt es, sich barbusig zu präsentieren; eine andere alte Tante flucht und isst den ganzen Tag und wiederum eine andere Verwandte hat einen ältlichen Gentleman mit fiepsigem Kehlkopf-Sprachassistenten im Schlepptau, der um ihre Hand anhält. Dass die Schauspielerambitionen von Fabiettos Bruder Marchino (Marlon Joubert) torpediert werden, weil Federico Fellini ihm beim Vorsprechen sagt, er sehe aus wie ein Kellner, passt. Sorrentinos gesamtes Œuvre ist bekanntermaßen eine Hommage an „il Maestro“.
Die Freude jedenfalls, mit der der Regisseur sein Ensemble zeichnet, etwa auf einem irrwitzigen Familienfest, ist in jeder Filmsekunde zu spüren. Gerade dass der Italiener auch das Derbe und den oft auch geschmacklosen Humor des Alltagslebens zeigt, sorgt für den von der Sippe ausgehenden Unterhaltungsfaktor. Aber Sorrentino beherrscht auch die Nuancen: Ein Glanzmoment in dieser Hinsicht ist Fabiettos Entjungferung durch die Baronin von obendrüber, bei der eine Haarbürste, die nicht nur im Haupthaar der betagten Frau zum Einsatz kommt, und die Kraft der Imagination eine große Rolle spielen.
Überhaupt ist die Imaginationskraft ein wichtiges Moment im Film. Gleich zu Beginn will ein zwergenhafter Mönch die Tante von der Unfruchtbarkeit heilen. Ein Hirngespinst der psychisch labilen Frau? Was ganz danach aussieht, wird am Ende sogar noch überhöht. Auch erzählt Die Hand Gottes selbstmythologisch davon, wie Sorrentino zum Film gekommen sein könnte. Er wolle Filme machen, um der nicht auszuhaltenden Realität zu entfliehen, erklärt Fabietto einem Regisseur, den er zuvor bei Dreharbeiten in der pompösen Galleria Umberto I beobachtet hat.
Die titelgebende Hand Gottes spielt hierbei im Film eine doppelt aufgeladene Rolle: einerseits als jener berühmte Moment, in dem Maradona im Viertelfinale der Fußball-Weltmeisterschaft von 1986 den Ball mit seiner Hand ins englische Tor befördert, im Film zu sehen auf einem flackernden Röhrenfernseher. Und anderseits als Fabiettos Glück, denn weil der Junge lieber sein Sportidol, das zum ansässigen Fußballklub SSC Neapel wechselt, beim Spiel sehen möchte, fährt er nicht mit ins Landhaus, in dem sich eine Tragödie ereignet. Sorrentino hat in verschiedenen Interviews erzählt, dass der Fußball und Diego Maradona ihm das Leben gerettet haben.
Was nun wahr ist in diesem Film, also was der Regisseur tatsächlich erlebt hat, tut nicht wirklich etwas zur Sache. Vielmehr ist Die Hand Gottes ein Film, der genau damit spielt: mit der filmischen Überhöhung der eigenen Erinnerung, und damit, dass das Leben und die Fantasie einander bedingen und befruchten können. So gelingt Sorrentino ein Film voll märchenhafter Warmherzigkeit, eine flirrende, so schöne wie traurige Coming-of-Age-Erzählung zwischen italienischer Hitze, neapolitanischem Temperament und Fußball.
Die Hand Gottes Paolo Sorrentino Italien 2021, 130 Minuten
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