Zuhause ist nur ein Wort

Film Chloé Zhaos Roadmovie „Nomadland“ schlägt in diesen Zeiten des Umbruchs ein wie ein Komet
Ausgabe 27/2021

Frage: Wie viel Realität verträgt das Kino, das von Haus aus gerne als Traummaschine gefeiert wird? Einiges – so muss die Antwort lauten, wenn man sich Chloé Zhaos Roadmovie Nomadland anschaut.

In ihrem dritten Film erzählt Zhao nach Jessica Bruders Reportagevorlage Nomadland: Surviving America in the Twenty-First Century von einer Frau, die in ihrem Van lebt und sich mit Saisonjobs in verschiedenen Bundesstaaten über Wasser hält. Es ist eine uramerikanische, mythologisch aufgeladene Geschichte von einem Leben „on the road“ und zugleich eine brandaktuelle. Zahlreiche dieser modernen Nomaden schieben sich, wohnungs- und arbeitslos geworden infolge der Entwicklungen der letzten Jahre, auf ihren vier Rädern quer über den Kontinent.

Fern heißt die von einer drahtigen, kurzhaarigen Frances McDormand mit verschmitzter Nüchternheit gespielte Frau in Nomadland, die den Tod ihres Mannes noch nicht überwunden hat und eines Tages aufbricht, weil es in ihrem Heimatort keine Jobs mehr gibt, die ihr erlauben würden, die magere Rente aufzubessern. Sie ist der Anker in diesem Film, der auf Zhaos ureigene Art im Dazwischen lebt: zwischen Dokumentarfilm und Fiktion. Diese beiden Welten haben sich schon in ihrem Debütfilm Songs My Brothers Taught Me, der aktuell bei Mubi zu sehen ist, und im Nachfolger The Rider berührt und produktiv aneinander gerieben.

Wie in den Vorgängerfilmen verwebt Zhao in Nomadland Vorgefundenes und Fiktion. Umgeben sind Frances McDormand und ein ebenfalls fantastisch spielender David Strathairn als sympathischer Neo-Cowboy, der ihr Avancen macht, von Laien und Betroffenen. Sechs Monate lang haben Zhao und ihr kleines Team in South Dakota, Kalifornien, Nebraska, Nevada und Arizona gedreht und durften die Welt der Rastlosen um Swankie, Linda May und Bob Wells, den „Papst“ und Influencer der „Vandweller“, einfangen. Sie kommen zwischendurch zu Wort und schildern ihre Hintergründe und Motivationen. Dass Zhao solche intimen Einblicke gewährt wurden, spricht für ihre Sensibilität.

An den sozialen Bruchstellen

Dabei ist Nomadland kein Abgesang auf das Kino als Ort des kollektiven Träumens. Aber es ist schon interessant, dass in diesen Zeiten der Unsicherheit und des Umbruchs, in denen die Wirklichkeitsflucht als ein ganz natürlicher Reflex erscheint, ein Film wie ein Komet einschlägt, der gerade das nicht liefert. Einmal steht Fern vor einem Kino, in dem ein neuer Avengers-Film läuft. Aus der Traum? Beim Filmfest in Venedig gab es den Goldenen Löwen, in Toronto den großen Publikumspreis, bei den Golden Globes und bei den Oscars Auszeichnungen als bester Film und für die beste Regie. Die 1982 in Peking geborene, in England und Amerika ausgebildete Regisseurin wurde damit die erst zweite Frau (und erste Asiatin) mit Regie-Oscar.

Das ist schon eine Geschichte für sich: dass eine gebürtige Chinesin mit ihren in den Staaten gedrehten Filmen ein uramerikanisches Genre, den Western, in die Jetztzeit holt und mit ihrem dokumentarisch-empathischen Stil entmystifiziert. Nomadland kommt jedoch nicht als Sozialdrama inklusive plumper Kapitalismuskritik daher. Vielmehr etabliert Zhao einen ganz und gar eigenen poetischen Realismus, mit jener Dialektik zwischen Mensch und Natur, die dem Western fest eingeschrieben ist. Die Kamera von Zhaos Lebenspartner Joshua James Richards holt die Menschen nah ran, fängt die Gesichter der Laiendarsteller ein und findet emotionale Entsprechungen in der Natur, Ludovico Einaudis getragener Pianoscore tut sein übriges.

Nomadland erzählt von einem Leben neben dem System, das der Vandweller-Papst Bob Wells als zu dollar-hörig beschreibt. Ferns Entscheidung für das Leben im Van ist eine bewusste, allen Widrigkeiten zum Trotz. Sie sei nicht „heimatlos“, sondern „hauslos“, erklärt sie einmal nicht ohne Stolz. „Home, is it just a word? Or is it something that you carry with you?“, lautet ein Zitat von Morrissey, das eine Kollegin, mit der Fern im Amazon-Lager zusammenarbeitet, auf dem Arm trägt.

So folgen wir Fern in ihrem geliebten Zuhause auf vier Rädern über die amerikanischen Highways. Es geht von Job zu Job, im Badlands National Park reinigt sie Toiletten, in South Dakota arbeitet sie in einer Restaurantküche; es geht durch eiskalte Nächte auf Parkplätzen, auf denen sie nur temporär geduldet ist, und hinein in die Wüste, um beim alljährlich stattfindenden Rubber Tramp Rendezvous, Bob Wells’ „Bootcamp für Anfängernomaden“, Tipps für das Leben auf der Straße abzuholen. Voller Liebe und Humor wird hier eine Gemeinschaft aus Ex-Marines und Witwen porträtiert.

Das mag fast zu pathetisch klingen für die zurückhaltend-humanistische Filmkunst von Chloé Zhao, aber es ist, wie es ist: Die Regisseurin ist die cineastische Stimme der Menschen an den gesellschaftlichen Rändern und den sozialen Bruchstellen des heutigen Amerikas. Allerspätestens wenn Fern, die Einzelgängerin, in den alten vier Wänden steht in der Bergbaustadt Empire, ein Ort, der nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch erst alle Einwohner und dann seine Postleitzahl verloren hat, wird klar: Der Preis für die Freiheit ist hoch.

Info

Nomadland Chloé Zhao USA 2020; 107 Minuten

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