Wer glaubt schon an Gott?

Ideologie Wie die Religionswissenschaft den Neoliberalismus sieht, ist so lehrreich wie einleuchtend
Ausgabe 05/2015

Im Feuilleton und in aktuellen Kommentaren der Printmedien werden Neoliberalismus und Religion seit langem in einem Atemzug genannt. Der Zusammenhang wird jedoch meist nur behauptet; unter religionswissenschaftlichen Gesichtspunkten sind ökonomische Phänomene und sie begleitende Theorien bisher kaum betrachtet worden.

In der kleinen, unvollendet gebliebenen Arbeit Kapitalismus als Religion, 1921 geschrieben, hat Walter Benjamin den modernen Kapitalismus als eine Gesellschaft der gläubigen Aufopferung charakterisiert. Als eine „religiöse Bewegung“, die bis zur „endlichen völligen Verschuldung Gottes“ führt. Die religiöse Struktur des Kapitalismus nicht nur als eine durch den Pietismus begünstigte, ihm quasi entwachsene Gesellschaftsform zu verstehen, wie Max Weber, sondern als „essentiell religiöse Erscheinung“, das traute sich Benjamin noch nicht, weil er befürchtete, in eine „maßlose Universalpolemik“ zu verfallen.

Benjamins Ansatz ist unbefriedigend, weil er in der metaphorischen Deutung stecken bleibt. Er bezieht den Begriff Religion auf die Ganzheit einer Gesellschaftsformation, also generell auf Leben und Verhaltensweisen der Menschen einer Epoche. Selbst wenn Kapitalismus als Religion gelebt wird, ist er zunächst einmal existenzielle Basis des Lebens – die so schmal sein kann, dass sie den Tod provoziert. Mit dem Begriff Neoliberalismus verbinden wir jedoch Vorstellungen nicht der Gemeinsamkeiten einer historisch gewachsenen marktwirtschaftlichen Produktionsweise, sondern eine bestimmte Form oder Gestalt „des Kapitalismus“.

Der Neoliberalismus aktiviert Theorien, die ihren Ursprung im bürgerlichen Wirtschaftsliberalismus des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts haben. Insofern ist der Vorwurf heutiger Protagonisten, ihre Gegner, die eine prozyklische Politik à la John Maynard Keynes fordern, griffen veraltete Konzepte auf, ein demagogischer Witz. Keynes veröffentlichte seine General Theory of Employment 1936, während der heutige Mainstream sich die Maxime des Klassikers der liberalen Ökonomie, Adam Smith (1723 – 1790), „Laissez faire, laissez aller!“ – „Lasst machen, lasst gehen!“ –, zu zeigen macht. Und zwar unter Verzicht auf seine wahrhaft liberale Theory of Moral Sentiments. Die Smith’sche Formel wird gemieden, aber die Illusion vom „freien Spiel der Kräfte“, in das der Staat nicht, etwa durch einen Mindestlohn, eingreifen darf, wird übernommen. Das haben zuletzt die fünf Wirtschaftsweisen mit ihrem Jahresgutachten 2014/15 überdeutlich offenbart. Der Titel ihrer der Bundesregierung übergebenen Expertise ist ein Appell: „Mehr Vertrauen in Marktprozesse“.

Zur Vernunft

Der Neoliberalismus ist also eine spezielle, von bestimmten Personen zu einer bestimmten Zeit protegierte Wirtschaftstheorie. Insofern ist eine Voraussetzung für religiöses Denken gegeben, die Ludwig Feuerbach als „Basis des Glaubens“ bezeichnet hat: die Differenz zwischen der allgemeinen oder „natürlichen Vernunft“ und einer besonderen, durch „besondere Wahrheiten, Privilegien und Extemtionen“ (Befreiung von allgemeinen Pflichten) herausgehobenen Vernunft. Diese extraordinäre Vernunft erscheint für den stimmig, der daran glaubt, steht aber im Widerspruch zur Realität, sobald nach Gründen gefragt wird.

Smith’ Annahme von der Selbstregulation des Marktes, der alle gesellschaftlichen Probleme löse, wenn man das Kapital gewähren lasse, ist ideologisch motiviert und daher für religiöse Implikationen anfällig. Wir haben es mit der Herauslösung eines Begriffs der Praxis ins Übersinnliche zu tun. Schon Alexander Rüstow (1885 – 1963), einer der Geburtshelfer des Ordoliberalismus, hatte Smith’ „unsichtbare Hand“ mit einer „quasi-religiösen Befangenheit“ in der Tradition des Spinozismus erklärt, wonach alles auf der Erde gottgelenkt sei, demzufolge jede menschliche „Regulierung“ schädlich.

Jens Grandt ist Publizist und Autor des Buchs Ludwig Feuerbach und die Welt des Glaubens

Der Markt des Adam Smith und des Kronzeugen der neoliberalen Unbedarftheit, Friedrich von Hayek, setzt voraus, dass alle Kapitaleigner zum Wohlergehen der Gemeinschaft investieren und für Beschäftigung sorgen; es ist ein utopischer Markt.

Trotzdem wurde und wird die Theorie der „vollkommenen Märkte“ von der Mainstream-Ökonomie als Garant für Wachstum und soziale Sicherheit betrachtet. „Diese Hoffnung gründet sich eher auf Glauben – besonders bei denjenigen, die davon profitieren – als auf Wissenschaft“, meinte dazu Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph E. Stiglitz.

Nun scheint der Gegenstand der Ökonomie, oberflächlich betrachtet, jede Transzendenz auszuschließen. Aber der Schein trügt. Auch Fakten können die Folie sein für den Übergang ins Reich metaphysischer Spekulation, ja das Faktum selbst kann durch Auswahl, überhöhte Bewertung, Verabsolutierung transzendiert werden. Es versteht sich, dass hier Transzendenz nicht auf ein Jenseits abhebt, sondern im weiteren Sinn als Überschreiten eines Bereiches möglicher Erfahrung in eine höherstufige Sphäre des Geistes gemeint ist. So entstand ein konstitutiver Wirtschaftsglaube, der nach einer Definition der säkularen „politischen Religion“ von Eric Voegelin „das Göttliche in Teilinhalten der Welt“ findet. Schon im Gründungsdokument der ersten internationalen Vereinigung neoliberaler Ökonomen, der Mont-Pélerin-Gesellschaft (1947), ist von einem „schwindenden Glauben an das Privateigentum und an Wettbewerbsmärkte“ die Rede, der wiederherzustellen sei.

Die amerikanischen Religionssoziologen Charles Glock und Rodney Stark haben „Dimensionen des Religiösen“ formuliert, die allen Glaubenskonstrukten eigen sind. Wenn wir herausfinden wollen, ob und in welcher Weise eine Theorie oder ein Verhalten die Grenze profaner Vernunft überschreitet, brauchen wir nur die Wesenszüge gegenzuhalten, die jeder Religion eigen sind. Erste und oberste Intention des Religiösen ist ein absoluter Gedanke, der Gott heißen kann oder wie bei Hegel höchste Vernunft. Das Absolute der neoliberalen Schule ist, tausendfach beschworen, der „freie Markt“. Er galt schon Friedrich von Hayek als das höchste Prinzip der gesellschaftlichen Evolution, die höchste Autorität, von der alle Parameter des Handelns abzuleiten seien – auch die Legitimation des Staates, die nicht vom Volkssouverän, sondern vom Erfolg der Wirtschaft ausgehe. Dem Bekenntnis zur Absolutheit hat der Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung in München, Hans-Werner Sinn, im Jahr 2003 mit dem Ruf „Markt, Markt und nochmals Markt!“ beredten Ausdruck verschafft.

Zur Messlatte des Religiösen gehört nach Glock und Stark „ein Glaubenssystem, das auf Mythen beruht, die systematisiert und durch Bekenntnisformeln und Dogmen zu einem Weltbild geführt werden“. Welche Bedeutung der Dogmatik in theologischen Systemen zukommt, ist bekannt. Kanonische Floskeln werden „gebetsmühlenartig“ wiederholt. Um nur einige zu nennen: Wenn es den Unternehmen gut geht, geht es der Gesellschaft gut. Lohnkosten müssen sinken, um Arbeitsplätze zu schaffen. Arbeitszeit ist zu verlängern, damit Umsatz und Kaufkraft gesteigert werden. Dieses Dogmen-Potpourri ist nicht nur in sich widersprüchlich (wie soll bei gesenkten Löhnen und Sozialleistungen die erhöhte Warenmenge gekauft werden?), die einzelnen Kernsätze halten auch keiner faktischen Prüfung stand.

Ein weiteres Indiz spiritueller Enthebung: Eine in sich geschlossene Lehre tritt mit dem Anspruch der „Kontingenzbewältigung und der Sinndeutung der menschlichen Existenz im Diesseits“ auf, so der Historiker Hans-Ulrich Wehler. Die Gralshüter wähnen sich, wie alle Hohepriester, im alleinigen Besitz der Wahrheit. Gerhard Schröder und Angela Merkel: „Es gibt keine Alternative.“ Nach sechs Jahren grandiosen Marktversagens schwören die Denkfabriken der Neoliberalen heute unbeirrt weiter auf die Segnungen des freien, was ja bedeutet: des entfesselten Marktes. Vor der Krise ist nach der Krise. Als hätte es sie nicht gegeben. Die Lehre ist sakrosankt.

Wie Christen und Heiden

Dass die Protagonisten ausschließlich mit wirtschaftlichen Kennziffern, Bilanzen usw. argumentieren, steht dazu nicht in Widerspruch. Jede profane Religiosität kommt wissenschaftlich verbrämt daher. Sie verbirgt sich „hinter einer Menge pseudowissenschaftlichen Wustes“ (Carl Amery). Symptomatisch ist die Überhöhung an sich realer Fakten zu „göttlichen Prädikaten“: die „Überschwänglichkeit“, um auf Feuerbach zurückzukommen. Daraus folgt ein Wirklichkeitsverlust, wie er jeder Religion eigen ist. Obwohl ein knappes Dutzend seriöser Studien belegt, dass ein angemessener Mindestlohn nicht in signifikanter Weise Arbeitsplätze vernichtet, behaupten die Wirtschaftsweisen – abgesehen von Peter Bofinger – das Gegenteil.

Individuen, die sich dem Dogmenkanon widersetzen, werden aus der Community ausgegrenzt, „analog der Scheidung der Christen von den Heiden“ (Wehler). Oskar Lafontaine in den 90er und der renommierte Konjunkturforscher Gustav Horn sind Beispiele hierfür. Heiner Flassbeck konstatierte in einem persönlichen Gespräch, dass Vertreter der herrschenden Lehre gegenläufige Ergebnisse in ihren Schreibtischen verstecken, weil sie ihren Job nicht verlieren wollen.

Vom Absoluten, dem Markt, geht eine Heilserwartung bzw. ein Heilsversprechen aus. Die Verkündung des Heils ist mit Wunschvorstellungen vom Weg dorthin verbunden, die auf einer Vereinseitigung bestimmter Komponenten des gesellschaftlichen Beziehungssystems beruhen. Wenn die Griechen „durch das Tal der Tränen“ gehen und wir nicht „über unsere Verhältnisse“ leben, das heißt einen Niedriglohnsektor akzeptieren, blüht Europa auf.

Natürlich betet heutzutage niemand für wirtschaftliche Prosperität. Die Ausrufung des Heiligen Geistes übernehmen Medien mit zumeist aus gutsituiertem Bildungsbürgertum stammenden Journalisten. Keine säkulare Religion braucht Tempel oder Kirchen. Das Einfallstor für säkular-religiöse Erbauung ist die Ideologie. Eric Voegelin, Philippe Burrin und andere Religionswissenschaftler haben nachgewiesen, wie Ideologien die realen Vorstellungen, Wünsche, Hoffnungen der Menschen in eine „über dem Menschen“ behauptete Vorsehung transzendieren – autoritäre Anerkennung in Personenkult, Vaterlandsliebe in Nationalismus und Chauvinismus, politische Ratlosigkeit in Nationalsozialismus – und wie all diese Überzeugungen religiöse Züge annehmen. Dass sich ökonomische Theorien und Absichten, nur weil sie ökonomische sind, ideologischer Instrumentalisierung entzögen, wäre ein schwer zu begründender Sonderfall. Friedrich von Hayeks Der Weg zur Knechtschaft, eine Geburtsschrift des Neoliberalismus, 2003 mit einem Vorwort von Otto Graf Lambsdorff neu aufgelegt, ist ein dezidiert – und ganz übel – ideologisches Werk.

Die wesentlichen „Dimensionen“ von Religion treffen mehr oder weniger auf den Neoliberalismus zu. Geht mit diesem Programm eine „puritanische Religiosität“, wie sie Max Weber beschrieben hat, einher? Immerhin stammt die Kanzlerin aus einer protestantischen Pfarrerfamilie. Härte, strenges Haushalten (die „schwarze Null“) und Vorteilsgier hatten im Protestantismus kapitalbildende Tradition. Insofern ist die von Merkel propagierte „Reform“-Politik mit dem Wort Austerität völlig richtig benannt; Austérité bezeichnete im ausgehenden Mittelalter die Askese im religiösen Kontext. Selbstredend wird die angeblich marktstimulierende Enthaltsamkeit etwas einseitig ausgelegt, denn: Religion hat einen praktischen Zweck. Der Status quo soll beibehalten werden.

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