Nur die Verbraucher haben dazugelernt

Das eine Prozent New Yorker Bürger stehen auf Wahrsager, die Wall Street teilt diesen Spleen. Schaden nehmen daran beide
Ausgabe 35/2015
Viele New Yorker würden ohne den Rat ihrer Rasputins nie einen Job annehmen
Viele New Yorker würden ohne den Rat ihrer Rasputins nie einen Job annehmen

Foto: Orlando/Three Lions/Getty Images

Er suchte Liebe, sie wollte Geld. In diesem Fall war sie eine Hellseherin am Times Square und er ein Single aus Brooklyn – auf der Suche nach einer entschwundenen Herzensdame. Die Hellseherin verlangte erst Cash, dann einen Ring von Tiffany‘s, eine Rolexuhr, schließlich Gold und Diamanten. Insgesamt erleichterte sie den Liebeskranken um 713.975 Dollar. Der Mann verschuldete sich und verlor sein Apartment. Was die Hellseherin nicht gesehen hatte: Die entschwundene Frau, nach der ihr Kunde sich so verzehrte, war inzwischen verstorben.

Das Ganze ist ein extremer Fall, aber viele New Yorker würden ohne den Rat ihrer Rasputins niemals einen Job annehmen und keine Wohnung kaufen.

Die Wall Street hat ihre eigene Wahrsagerzunft: Ökonomen. Deren Ruf hat allerdings gelitten, nachdem sie – bis auf sehr rare Ausnahmen – die Immobilienblase und deren verheerende Auswirkungen nicht kommen sahen. Doch das hat offenbar nicht dazu geführt, dass sie ihre Modelle überdacht und überkommene Annahmen über das Leben jenseits der Banktürme überprüft haben. Zur Jahreswende wurde etwa Jan Hatzius gefragt, ob der Konsum in Amerika in diesem Jahr kräftig steigen werde. Die Antwort des Chefökonomen von Goldman Sachs fiel deutlich aus: Ja! Denn durch die fallenden Ölpreise hätten die Konsumenten doch viel mehr Geld zu ihrer Verfügung.

Hatzius, der in Heidelberg geboren wurde und unter anderem am Institut für Weltwirtschaft in Kiel studiert hat, vertrat die Meinung, dass die US-Autofahrer, die so viel an Sprit sparen, natürlich alles sofort in den Konsum stecken. Damit ist er unter seinen Volkswirtkollegen keineswegs allein. Sie halten an folgendem Klischee fest: Wenn man einem US-Amerikaner einen Dollar in die Hand gibt, wird er zwei ausgeben. Doch im Gegensatz zu den Wirtschaftswahrsagern haben die Verbraucher ihre Lehren aus dem Desaster von 2008 gezogen. Zwar hat ein Bürger in den USA im Durchschnitt nur 4.436 Dollar auf dem Konto. Doch inzwischen sparen die Leute mehr. Und nicht nur das: Gerade hat die Kaufhauskette Macy’s mitgeteilt, dass es in diesem Jahr wohl null Umsatzwachstum geben wird. Die Ausgaben für Elektronik und Haushaltsgeräte sind im Juli um 1,2 Prozent gesunken. Dabei hat sich die Situation am Arbeitsmarkt verbessert, Löhne steigen, und dann sind da eben die tiefen Spritpreise. Der Ölpreis fiel Anfang August auf den tiefsten Stand seit über sechs Jahren.

Das müsste laut Hatzius & Co. den Konsum ja geradezu explodieren lassen. Doch seit der Rezession gehen US-amerikanische Konsumenten anders mit ihrem Geld um. Das bisschen mehr in der Haushaltskasse? Geben sie nicht für den nächsten Flachbildfernseher aus. Sondern wenn dann für Ausgehen, Sport, Gesundheit und Reisen. Ausgaben in Bars und Restaurants sind in diesem Juli gestiegen. „Die Religion des Konsums hat sich als unbefriedigend herausgestellt“, erklärte jüngst der Einzelhandelsanalyst Richard Jaffe der New York Times. Das hat wohl auch die Hellseherin vom Times Square erkannt: Als sie verhaftet wurde, speiste sie gerade in einem Steak House.

Jens Korte lebt in New York und berichtet vor allem aus dem Epizentrum der Finanzwelt

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