Die subtropischen Bäume wachsen wild und werfen lange Schatten. Zwischen den Palmen steht die Zeit still. Schwer von Feuchtigkeit, scheint die Luft eine vergangene Epoche zu konservieren. Die Zweige verbergen Statuen vergessener Helden: stolze Arbeiter und Revolutionäre, umgeben vom Geruch faulender Blätter, der vergeht. Einem einsamen Springbrunnen ist längst das Wasser abhanden gekommen. Von Moos überzogen zeugt die Anlage von Schicksalsschlägen, wie sie Tqwartscheli hart getroffen haben. Die Bergbaustadt war zu Sowjetzeiten der industrielle Kern Abchasiens. In einer abgelegenen Schlucht zwischen den Bergen des Kaukasus sorgten Generationen von Minenarbeitern für den Lebensunterhalt ihrer Familien durch gefährliche und zermürbend unterirdische Plackerei. Die Kohleschächte versorgten eine Stadt mit Leben, in der einst 35.000 Menschen wohnten.
Hunger und Entvölkerung
Dann aber kam es zu Plagen fast alttestamentarischen Charakters: Die Sowjetunion verging, ein extremer Nationalismus trat in Erscheinung, ein Bürgerkrieg war die Folge. Es gab Hunger, Stromausfälle, einen industriellen Aderlass, Arbeitslosigkeit, Entvölkerung und Armut. International ist Abchasien isoliert, nachdem es sich im September 1993 für unabhängig von Georgien erklärt hat. Tqwartscheli wurde zur abgeschiedenen Stadt in einem abgeschotteten Land. Die über tausend Meter hohen Berge ringsherum wirken so, als seien sie die schweigsamen, meist von Wolken verhüllten Zuschauer von Niedergang und Verfall. Bis zum Ende der Sowjetunion galt Tqwartscheli als sozialistische Musterstadt. In ihrer Schönheit steht die Architektur der sie umgebenden Natur in nichts nach. Nur der eleganteste neoklassizistische Baustil war gut genug für die Bergleute, die im Proletarierstaat einen hohen Status besaßen und entsprechend bezahlt wurden. Nun stehen viele der Häuser leer und verwandeln sich in Ruinen. Pferde grasen in verwahrlosten Gärten, die Stille mit einem Prusten oder Scharren der Hufe brechend. Bald werden sie verschwunden sein, weiter und tiefer in die Dornröschenstadt hineintraben.
Da Josef Stalin eine Bauweise schätzte, die nicht zuletzt die Tempel des Römischen Reiches imitiert hat, erwecken die Ruinen von Tqwartscheli zuweilen den Eindruck, sie seien mehrere Tausend Jahre alt. Doch setzte der Zerfall erst mit den 1990er Jahren ein, als die sowjetische Zivilisation unterging und Tqwartscheli mit sich riss. Die älteren Einwohner der Stadt verbrachten den ersten Teil ihres Lebens in einer anderen Welt und zahlten später einen hohen Preis für den Übergang zu einer völlig anderen, einer brutalen Wirklichkeit.
In einem der Häuser, die der Zeitstrom bisher verschont hat, betreibt Dali Kupatadze ein kleines Lebensmittelgeschäft. „Wir hatten Fabriken, Schächte und eine ausgebaute Industrie. Alles wurde im Krieg zerstört“, erzählt die 76-Jährige und verweist auf den blutigen ethnischen Konflikt zwischen Abchasen und Georgiern in den Jahren 1992/93. Die Abchasen siegten, Hunderttausende Georgier flohen, um nie mehr wiederzukommen. Mit einer Fliegenklatsche bewaffnet, tritt Kupatadze ein paar Schritte vor die Tür, wo sie mit einigen Kunden in einen Streit um ein paar Rubel gerät. Danach beruhigt sie sich und bietet eine Dose Cola aus dem Kühlschrank hinter der Theke an. Dali Kupatadze ist eine der wenigen Georgierinnen, die seinerzeit in Abchasien bleiben wollten. „Mein Mann ist auch Georgier, und niemand hat hier etwas gegen uns. Wir gehen mit unseren abchasischen Freunden zu Hochzeiten und Begräbnissen. Niemand stört uns.“
Während des Bürgerkrieges belagerten die georgischen Streitkräfte Tqwartscheli 413 Tage lang, doch gelang es ihnen nicht, die Stadt einzunehmen. Wegen der vielen Opfer und des Widerstands wurde Tqwartscheli von der neuen abchasischen Regierung danach zur „Heldenstadt“ erklärt. So führte man eine sowjetische Tradition aus dem Zweiten Weltkrieg fort.
Zwecklos an Straßenecken
Wie haben die Menschen während der Belagerung hier gelebt? „Ja, wie haben wir gelebt? In Furcht“, erinnert sich Dali Kupatadze. „Wir wussten nicht, ob uns jemand tötet. Bei Gott, davor hatte ich Angst. Aber wir haben überlebt, ohne eine Ahnung davon zu haben, was weiter passieren würde. Das Leben danach war auch nicht einfach.“ Dali Kupatadze spricht die Lingua franca von Abchasien, das Russische, ohne Probleme. Nur wenn sie sich aufregt – und das tut sie, geht es um die missliche Lage in Tqwartscheli – wird ihr georgischer Akzent deutlich hörbar.
„Wäre nicht Wladimir Putin bereit gewesen, hier die Renten zu bezahlen, wären wir schon lange an Hunger gestorben“, sagt sie und betont das mit einigen lauten „Khoo“ – dem georgischen Wort für Ja. „Ich bekomme zwei Renten, eine vom abchasischen Staat und eine vom russischen. Meine abchasische Rente beträgt 500 Rubel (sieben Euro, die Red.), die russische 10.000 Rubel (140 Euro). 500 Rubel reichen nicht aus, um nur für eine Woche Lebensmittel zu kaufen“, stellt sie fest. Auf die Frage, welchen Unterschied sie zwischen der Sowjetzeit und der Gegenwart empfindet, seufzt Dali tief, als ob sie gar nicht wüsste, wo sie anfangen soll: „Damals hatten wir Arbeit und Löhne, vor allem haben wir nicht zwischen Nationalitäten unterschieden, sondern waren alle zusammen. Alle Völker waren wie ein Volk. Aber jetzt leben wir getrennt, und die Länder sind geteilt. Wäre die UdSSR nicht untergegangen, hätte es hier nie Krieg gegeben.“
Bei einem Spaziergang über löchrige Straßen zeigt Tqwartscheli mehr von seinem früheren Glanz – überall Gewölbe, Balkone, Symmetrien, verzierte Fassaden. Nach dem Zweiten Weltkrieg bauten deutsche Kriegsgefangene große Teile der Stadt in monumentalem Stil weiter. Tqwartscheli hatte bereits an Bedeutung gewonnen, nachdem Nazideutschland 1941 in die UdSSR einmarschiert war und die Schächte im Donbass in der Ostukraine besetzte. In diesem Augenblick musste es die Kohle aus Abchasien sein, damit die Schwarzmeerflotte weiterfahren konnte.
Eine herausgehobene Stellung nimmt im Straßenbild noch immer der Kulturpalast ein, der einst für die Bergleute gebaut wurde und auf breiten Säulen ruht. Im Gebäude selbst beleuchten schwere Lüster die aufwendig verzierten Säle, in denen es einmal Sportveranstaltungen, Tanzunterricht, Theaterstücke, letzte Schultage, den Tag der Bergleute und Konferenzen des Jugendverbandes Komsomol gab. Immer noch wird der Kulturpalast genutzt, er beherbergt inzwischen das Stadtmuseum. Die magere Museumsführerin mit den tiefen, dunklen Augen bewegt sich wie ein Schatten zwischen den Gegenständen der Ausstellung. Um an Familienmitglieder, Nachbarn und Freunde zu erinnern, die sie im Bürgerkrieg verloren hat, kleidet sich die ältere Frau komplett in Schwarz. Einen besonderen Platz im Museum nimmt eine Collage mit etwa 50 kleinen Porträts ein. Sie zeigen mehrheitlich Frauen und Kinder, die am 14. Dezember 1992 abgeschossen wurden, als ein Hubschrauber versuchte, sie aus der belagerten Stadt zu bringen. Niemand überlebte den Absturz, die Tragödie wirkt wie ein Sinnbild für das Grauen damals, vor 26 Jahren.
Wer das Museum verlässt, stößt auf Männer, die zwecklos an den Straßenecken herumstehen. Kettenrauchend, einsam, entrückt. Man geht vorbei und nähert sich dem Rathaus. Ohne vorherige Vereinbarung weist eine Sekretärin direkt zur Tür der Bürgermeisterin. Am Ende eines großen Büros steht Aida Tschatschchalija, bereit zum Empfang. Die Ortsvorsteherin umgeben Stadtwappen, Fahnen und Gemälde im Gestus des sozialistischen Realismus. Diese Stilrichtung der Malerei hat das Leben in der Sowjetunion mit leicht lesbaren Motiven idealisiert. In diesem Fall bildet eines der Werke die Promenade und Hotels in der abchasischen Hauptstadt Sochumi detailgetreu ab. Der beliebte Badeort habe bis zuletzt Touristen aus der ganzen Sowjetunion angezogen, träumt sich die Bürgermeisterin zurück. Auch wenn es wenig wahrscheinlich sei, hoffe sie, dass die guten Zeiten wiederkämen. Wäre man dem noch gewachsen? „Weil immer mehr Menschen Tqwartscheli verlassen, um Arbeit zu finden, ist die Bevölkerung auf etwas mehr als 5.000 Einwohner geschrumpft“, räumt sie ein. „Aber wir verlieren nicht den Mut und bestehen darauf, dass die Stadt gute Perspektiven hat.“
Vor ein paar Jahren haben russische Urlauber begonnen, wieder an den Stränden Abchasiens Gefallen zu finden, bisher jedoch profitiert die Bergstadt nicht davon. Tqwartscheli liegt gut 30 Kilometer von der Küste entfernt. Die 48-jährige Bürgermeisterin preist die Wasserfälle und Bergseen der Umgebung als absolute Sehenswürdigkeiten. Vom Smartphone auf ihrem Schreibtisch ertönt plötzlich eine laute Rufmelodie, sie verschwindet in einen Nebenraum. „Das war der Präsident. Er ruft jeden Tag an und will wissen, wie es um uns steht. Er kommt selbst von hier“, sagt Aida Tschatschchalija über Raul Chadschimba, Republikchef seit 2014, setzt sich hin und will den verlorenen Gesprächsfaden wieder aufnehmen. Wir kommen zurück auf Tqwartschelis Potenzial als Touristenziel. Die Bürgermeisterin findet, die herausragende Architektur werbe für die Stadt. „Aber wegen der Probleme, die uns seit dem Bürgerkrieg belasten, haben wir leider keine Gelegenheit, uns um die schönen Gebäude zu kümmern.“
Der dramatische Niedergang, dem der Besucher überall in Tqwartscheli begegnet, hat eine Reihe russischer Blogger veranlasst, diesen Ort auf diversen Internetseiten „Gorod-prisrak“ – Geisterstadt – zu nennen. Die Bürgermeisterin mag diese Bezeichnung überhaupt nicht. „Warum konzentrieren sich diese Leute nur auf das Negative?“ Das Thema Geisterstadt gehöre der Vergangenheit an. „Wir sind eine Stadt der Zukunft, aber nicht sicher, dass alles gut geht.“ Aida sagt das mit einer Stimme, die nicht nach Zweifel klingt, und erhebt sich zum Abschied.
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