Schlaflos in Sajzewo

Ostukraine Ein Dorf wird von der Front in zwei Teile zerschnitten. Zivilisten leben mit der Angst, von der nächsten Granate getroffen zu werden
Ausgabe 06/2017

Drei, vier Gewehrsalven erschüttern Sajzewo, dann ein kurzer Moment der Stille, und vom anderen Ende des Dorfes her antwortet ein Maschinengewehr mit abgehackten Feuerstößen. Es hat den Anschein, als würden die Schützen miteinander sprechen, als gäbe es einen Dialog zwischen dem Trupp der ukrainischen Armee im Graben irgendwo weiter draußen und den Posten der Separatisten im Dorfkern, die mit starren Augen auf den Feind halten. Erdbrocken spritzen auf vom Einschlag der Geschosse. Jedes Mal, wenn solcher Kriegslärm einsetzt oder eine Granate detoniert, bäumen sich die Hunde zwischen den Häusern auf. Das Geheul der Tiere zieht über die vereisten Felder wie die Schreie von Wahnsinnigen, die sich nicht anders zu helfen wissen, als der Welt so mitzuteilen, wie beklagenswert ihr Dasein ist.

Sajzewo unterscheidet sich nicht im Geringsten von den für die Gegend typischen Dörfern. Geducktes Gebüsch, ebensolche Häuser, kahle Bäume, deren Kronen oft durch Beschuss gekappt wurden, dazwischen gefrorene Fahrspuren, durch die sich gerade ein einsamer Lada einen Weg zwischen den Katen links und rechts bahnt. Der Ort muss es hinnehmen, von einer unsichtbaren Frontlinie zwischen Regierungstruppen und Separatistenmilizen geteilt zu sein. Das Gros der Bewohner ist längst geflohen, die meisten Häuser sind seit Monaten verwaist, Türen und Fensterläden verschlossen. An mehreren Stellen haben Granaten Gebäude, Höfe und Ställe zu Trümmerhalden zermahlen. Neben einer solchen Ruine wohnt eine der Zurückgebliebenen. Feine weißgraue Haare schauen unter dem orangefarbenen Kopftuch der Frau hervor. Sie schließt das Gartentor hinter sich, ist zu einem Gespräch bereit und kommt in den Wintersonnenschein hinaus.

„In der Nacht schießen sie, am Abend schießen sie, am Nachmittag schießen sie auch. Jeden Tag. Wann wird das je aufhören?“, fragt die 81-Jährige. „Ich glaube nicht mehr daran, dass es dazu kommen wird.“ Sie wird in ihrer Klage durch eine erneute Salve unterbrochen. Die ständigen Gefechte hätten fast das Leben eines Angehörigen gekostet. „Der Sohn meines Neffen wollte etwas aus seinem Gemüsegarten holen, als eine Granate einschlug. Ein Splitter traf seinen Arm. Es gab überall Blut.“ Weshalb bleibt sie noch in Sajzewo, wenn das so gefährlich ist? „Sich irgendwo außerhalb in Sicherheit zu bringen, ist nicht so einfach. Und warum sollte ich mich von meinem Zuhause trennen? Alles hier haben wir selbst gebaut. Außerdem habe ich mein ganzes Leben in Sajzewo verbracht. Wohin sollte ich gehen? Meine Rente beträgt 2.000 Rubel (etwa 30 Euro). Ich kann es mir nicht leisten, irgendwohin abzuhauen.“ Pensionäre und Arme, nur die sowieso am stärksten abgehängte Bevölkerungsgruppe harrt noch in Sajzewo aus, all jene, die keine andere Wahl haben. Inzwischen sind mehrere Einwohner aufgetaucht und schalten sich in unser Gespräch ein. Sie setzen sich auf die Bank eines Bushäuschens, an dem schon lange kein Gefährt mehr hält, das aber ein Treffpunkt geblieben ist. Das Verhalten der Leute vermittelt einen Eindruck davon, was es bedeutet, inmitten einer Kriegszone überleben zu wollen und jeden Tag die Angst aushalten zu müssen, die nächste Granate könnte im eigenen Haus landen, man sich dann unter krachenden Balken, pfeifenden Garben von Splittern und Geschossen wiederfinden. Nach einer Weile kommt im Wartehäuschen kein zusammenhängendes Gespräch mehr zustande, viele scheinen verwirrt zu sein, wiederholen sich oft, weinen schnell.

Verlassenes Gehöft in der Kampfzone

Foto: Brendan Hoffman/Getty Images

„Wir möchten bloß Frieden, und dass es wieder ruhiger wird, um Gottes willen ruhiger“, betet eine ältere Frau mit einem violetten Tuch um den Kopf und Tränen in den Augen. Sie schafft es kaum, ihr Taschentuch in die Jacke zu stecken, als die nächste Artilleriegranate durch die Luft pfeift und irgendwo hinter Sajzewo einschlägt. Ein Soldat der Separatisten, der sich als „Kum“ vorstellt, stößt zur Versammlung der letzten Mohikaner von Sajzewo. Er zeigt mit dem Arm die Dorfstraße hinunter. „Dort hinten stehen die Ukrainer. Sie beschießen jeden Tag die Schule und das Krankenhaus auf unserer Seite. Wenn es ihnen gelingt, diesen Teil des Ortes einzunehmen, sind wir ganz schnell eingekesselt. Wir tun alles, damit es nicht so weit kommt“, meint er und schaut entschlossen unter seiner dunkelgrünen Militärkappe hervor, eine Kalaschnikow über die Schulter gehängt.

Granatsplitter am Kopf

Um den Lauf der Maschinenpistole windet sich ein schwarz und orange gestreiftes Sankt-Georgs-Band – ein Symbol, das die Soldaten in den rebellischen Volksrepubliken der Ostukraine benutzen, um ihre Loyalität gegenüber Russland zu zeigen und zum Ausdruck zu bringen, dass sie ihr Territorium rings um die Aufstandshochburgen Lugansk und Donezk verteidigen wollen. Dieses Dorf liege wie ein Vorposten in der Kriegszone, vom Süden her verlaufe die Frontlinie, die aus dem Raum von Donezk abzweige und dann nach Osten in Richtung Lugansk schwenke. Dass im Augenblick so unerbittlich gekämpft werde, sei auf die Lage der Siedlung zurückzuführen. Auch versuche die ukrainische Armee, durch viele „Froschsprünge“ in der Nacht Terrain zu erobern, das auf der anderen Seite der mit dem Minsk-Vertrag gezogenen Demarkationslinie liege, sagt Kum.

Minsker Stillstand

Trotz aller Versuche, die Waffenruhe zu retten, wird seit Mitte Januar im Donbass wieder heftig gekämpft, so dass fast jeden Tag Tote zu beklagen sind. Die erstmals im Frühjahr 2014 ausgebrochenen Gefechte haben bereits jetzt mehr als 10.000 Menschenleben gefordert. Beide Seiten geben sich gegenseitig die Schuld, die Feuerpause nicht einzuhalten, wie sie mit dem Minsk-II-Vertrag vom 12. Februar 2015 durch Russland, die Ukraine, Deutschland und Frankreich, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und die Führer der ausgerufenen Republiken in Donezk und Lugansk ausgehandelt wurde. Die Regierung in Moskau weist Vorwürfe aus Kiew, Berlin und Paris zurück, die Abtrünnigen in Donezk und Lugansk militärisch aufzurüsten.

Pufferzone

Der seinerzeit in Minsk ausgehandelte Kompromiss sah vor, dass die Konfliktparteien ihre Truppen inklusive Artillerie, Panzern und Flugabwehr jeweils 50 Kilometer von einer als Demarkationslinie ausgewiesenen Front zurückziehen. Durch die so entstehende Pufferzone von 100 Kilometern sollten neue Zusammenstöße verhindert werden. Die Kontrolle über diese Entflechtung lag bei der OSZE, die dem aus verschiedenen Gründen nicht gerecht wurde. Von Teilabzügen abgesehen, blieb die Distanz zwischen den verfeindeten Militärverbänden zu gering, um Kampfhandlungen auszuschließen.

Autonomie

In Punkt III des Minsk-II-Vertrages ist verankert, dass die Legislative und Exekutive in Kiew durch eine Verfassungsänderung den Regionen Lugansk und Donezk einen Autonomiestatus zuerkennen. Dazu kam es bisher ebenso wenig wie zum Gefangenenaustausch, zu einer Generalamnestie sowie der Einrichtung eines in die Ostukraine führenden Korridors für humanitäre Hilfsleistungen. So ist in der „Donezker Volksrepublik“, wozu die von den Autonomisten kontrollierte Ortschaft Sajzewo gehört, die Bildung eines eigenen Staates relativ weit fortgeschritten. Kaum anders stellt sich die Lage in der „Volksrepublik Lugansk“ dar. Lutz Herden

„Sajzewo befindet sich nur ein paar Kilometer nördlich von Horliwka, einer Provinzstadt, die unter Kontrolle der Donezker Volksrepublik steht“, erklärt er weiter. „Der Donbass muss noch ein bisschen Geduld haben. Artjomowsk, Dserschinsk und Konstantinowka – die gesamte Provinz werden wir befreien. Aber bisher gibt es dazu kein grünes Licht von oben. Uns wird gesagt, wir hätten kein Recht, das Minsker Friedensabkommen zu brechen. Bekämen wir den Befehl, wäre schon der ganze Donbass genommen. So können wir nichts anderes tun, als hier die Stellung zu halten, auch wenn unsere Nerven kaputt sind“, sagt der Soldat Kum, während seine Militärstiefel in Eis und Kies knirschen.

Er verweist auf ein breites Loch, wo eine Granate die Erde unter dem Rasenteppich umgedreht hat. Wie die Kugeln fliegen auch die gegenseitigen Beschuldigungen zwischen den beiden Kriegsparteien hin und her, wer für die Verletzung des Friedensabkommens vom Februar 2015 verantwortlich sei. „Bei den Ukrainern muss man auf alles vorbereitet sein. Sie kennen keine Skrupel und beschießen uns mit schwerer 120- und 152-Millimeter-Artillerie, sogar von Panzern aus, was ein klarer Verstoß gegen das Minsker Abkommen ist. Ab und zu werfen sie Phosphorbomben ab.“ Kum weiß, wie es sich anfühlt, wenn Metallteile in den Körper eindringen. „Es war bei den Gefechten um Artjomowsk. Ich wurde von einem Granatsplitter am Kopf getroffen. Die Ärzte haben mich gerettet, aber ein Freund von mir starb am gleichen Tag.“

Der Spaziergang geht in Schweigen über, bis uns das Maskottchen der Separatisten von Sajzewo mit wedelndem Schwanz entgegenkommt. Kum hockt sich hin und streichelt dem Vierbeiner den Kopf. Der Hund fängt an, dem Soldaten das Gesicht zu lecken. „Ja, du bist ein guter Hund, ein richtig guter. Nein, wir werden uns nicht küssen. Ist nicht nötig“, schärft Kum ihm ein. „Er bellt, wenn Gefahr droht, und hat uns viele Male geholfen.“

Kum weist auf einen großen Krater neben der Dorfstraße. „An dieser Stelle stand noch vor wenigen Tagen ein Haus, das von einer Rentnerin bewohnt wurde, als es von der ukrainischen Seite aus unter schweren Beschuss geriet. Sie benutzten ein 120-Millimeter-Geschoss. Einen Krater von solcher Größe hinterlässt keine 80-Millimeter-Granate.“

Schließlich verabschiedet sich Kum, während der späte Nachmittag langsam zum Abend wird. Die Sonne nähert sich dem Horizont und hüllt das Land in einen rötlich goldenen Schein. Das friedvolle Licht kann die Bewohner von Sajzewo weder von ihrer Verbannung in den Krieg befreien noch in die Lage versetzen, einem Schicksal zu entrinnen, durch das tagtäglich ihr Leben gefährdet wird. Gewehrsalven und das immer wieder auflackernde Artilleriefeuer lassen keinen Zweifel: Die Menschen werden auch in dieser Nacht kaum schlafen.

Jens Malling ist freier Autor und berichtet für den Freitag seit Sommer 2016 aus der Ostukraine

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