Vergessene Stadt

Konstruktivismus Charkiw in der Ukraine war ein Prunkstück der sowjetischen Moderne. Heute verrostet und zerbröckelt der Ort
Ausgabe 45/2018
Volldampf in die Zukunft um 1930
Volldampf in die Zukunft um 1930

Foto: United Archives/Imago

Ein Babelturm, ein Kaleidoskop, ein Schloss der Visionen. Diese Eindrücke reihen sich schnell aneinander, wenn man vor dem wichtigsten Wahrzeichen Charkiws steht, dem Derschprom. Das Bauwerk flankiert eine ganze Seite des riesigen Freiheitsplatzes im Zentrum. Keine fotografische Wiedergabe vermag es, dieser Sehenswürdigkeit gerecht zu werden. Während der Betrachter versucht, den bis 1928 erbauten Koloss zu umkreisen, werden feine Details ständig deutlicher.

Was passiert, erinnert an das fernglasähnliche Glasspielzeug, das sich Kinder vor Augen halten, woraufhin faszinierende Bilder entstehen. Schlanke Fensterreihen markieren neun Treppenhäuser. Wie die Balken eines Säulendiagramms streben sie mit verschiedenen Höhen gen Himmel. Diagonale Fußgängerbrücken brechen die Reihen der vertikalen Linien auf, dazu binden frei schwebende Überführungen die verschiedenen Flügel des Gebäudes zusammen. Derschprom ist die verkannte Ikone einer außergewöhnlichen Architektur: In Skandinavien wurde sie Funktionalismus genannt, in Deutschland Bauhaus-Stil, in der Sowjetunion Konstruktivismus. Wie attraktiv das sein konnte, lässt sich leicht an Werken von Le Corbusier und Erich Mendelsohn in Paris und Berlin ersehen. Hinsichtlich des historischen Werts wird der Derschprom klar unterschätzt, was mit Charkiws Lage an der Peripherie Europas zu tun haben mag: Eine vergessene Stadt in einem vergessenen Land, das viele Westeuropäer für eine Art russische Provinz hielten, bis es zu den dramatischen Ereignissen des Maidan-Aufruhrs im Winter 2013/14 kam.

Auch in der Ukraine steht Charkiw im Schatten der Kapitale Kiew wie des charmanten Tourismusmagneten Lwiw im Westen. Um die ausgefallene Architektur verstehen zu können, sollte man wissen, dass Charkiw von 1919 bis 1934 Hauptstadt der ukrainischen Sowjetrepublik war. Zu einer Zeit also, da die Bolschewiki nach der Revolution von 1917 versuchten, einen neuen Staat aufzubauen und den einer schnellen Industrialisierung auszusetzen. Viele Freunde der Sowjetunion im Ausland besuchten die Stadt: Politiker, Künstler, Architekten, Ingenieure und Physiker, später Flüchtlinge aus dem von Hitler bedrohten Europa. Über den Umbruch, den Charkiw erlebte, schreibt der Historiker Karl Schlögel: „Man versteht im Nachhinein gut, warum Charkiw einmal Pilgerort für viele war, die wissen wollten, wie die Welt von morgen aussehen sollte.“

Schaufel und Schubkarre

Die Stadt war über ein Jahrzehnt Zentrum für ein großes Experiment, soziale Umwälzung korrespondierte mit postimperialer Befreiung nach der Zarenzeit. Als der Derschprom erbaut war, verkündete die Konstruktion den Durchbruch der Moderne in Charkiw, in der Ukraine, ja, der ganzen Sowjetunion. Die Regionalrepublik, mehrere Kommissariate, eine Bibliothek wie ein Hotel wurden hinter den Wänden und Glasfassaden untergebracht. Für einen knappen Abschnitt der Geschichte lag hier das Hauptquartier des ukrainischen Kommunismus. Räume in diesem Gebäude bekam später auch das Stadtmuseum, mit dem die Besucher dank Schaukästen und Tafeln erfuhren, wie sich die Sowjetmacht in Charkiw etablierte. Plakate dokumentierten den Wandel im Stadtbild, den Charkiw bis heute nicht verleugnen kann.

Museumsmitarbeiterin Maria Tschumak erscheint zwischen den Exponaten, erzählt von der derzeitigen Renovierung, holt mürbe Fotoalben hervor und zieht sich weiße Handschuhe an, um kein wertvolles historisches Material zu beschädigen. Die Originalbilder zeigen, wie der Zukunftspalast, der uns umgibt, auf primitive Werkzeuge, auf Schaufel und Schubkarre, angewiesen war. „Wenn wir die lange Nacht der Museen veranstalten, zeige ich Gruppen das Gebäude. Und das ist immer ein Erfolg. Gestern habe ich einige amerikanische Studenten begleitet, die sich für die Architektur von Charkiw interessierten“, berichtet die 28-jährige Historikerin.

Charkiw erweckt den Eindruck, eine der freundlichsten Städte des Landes zu sein. Es gibt Parks und genügend Platz. Anders als in Kiew haben die Bewohner keinen Grund, sich Sorgen über Smog, Staus und Überbevölkerung zu machen. Es ist sogar möglich, einen Sitzplatz in der Metro zu bekommen, deren Stationen eine ausgelassene Variante des sowjetischen 70er-Jahre-Futurismus spiegeln und zu den visionärsten U-Bahn-Bauten Europas gehören.

Ukrainischen Polizisten von heute ist die Geschichte kein Rückhalt mehr

Foto: Brendan Hoffman/Getty Images

Mehrere Hochschulen Charkiws ziehen jedes Jahr Tausende von ausländischen Studenten an, die für eine kosmopolitische Atmosphäre sorgen. Viele von ihnen leben im Wohnheim Gigant, das in den späten 1920er Jahren erbaut wurde, ein weiteres wichtiges Beispiel für Charkiws „rote Moderne“. Studenten sollten beste Bedingungen vorfinden, um nach dem Abschluss bereit zu sein, den Sozialismus aufzubauen. Das Gebäude wird seinem Namen durchaus gerecht: Das Internat zieht sich mehrere Hundert Meter die Puschkin-Straße entlang. Außer diesem Wohnheim sollten Besucher der Stadt auch das Postamt am Bahnhofplatz, den Klub der Eisenbahnarbeiter von 1929 und die Telefonzentrale in der Freiheitsstraße nicht verpassen – alles Embleme des Konstruktivismus.

Legendär: das Traktorenwerk

Eine längere Fahrt mit der Metro ist notwendig, um das vielleicht fesselndste Quartier Charkiws an der Peripherie der Stadt zu erreichen: ein ganzes Viertel aus der Epoche des modernen Bauens, das unter dem Label „ChTS“ firmiert, der Abkürzung fürs Charkiwer Traktorenwerk. Der Name für diesen Teil der Stadt ist dem riesigen Industrieensemble zu verdanken, das am Moskowskij Prospekt erhalten blieb. Eine hellhaarige Frau mittleren Alters verlässt den Ausgang der U-Bahn und geht durch den Bezirk, in dem sie lebt. „Hier gab es früher einen Kindergarten, dort drüben Wohnungen, in denen Arbeiter aus anderen Sowjetrepubliken gemeinsam gelebt haben“, meint die 45-jährige Jewgenija Borisowa und zeigt in der Umgebung herum.

Um das Allgemeinwohl zu stärken, wurden auch ein Hochzeitspalast, eine Badeanstalt, Stadien sowie Jugendhäuser im neuen Charkiw untergebracht. ChTS galt als Teil einer „Sozgorod“, auf Russisch das Kürzel für „sozialistische Stadt“. Ein Muster, wie es auch an vielen anderen Orten der damaligen Sowjetunion prägend war. Derartige Kommunen wurden in den späten 1920er und den 1930er Jahren buchstäblich aus dem Boden gestampft, sodass Hunderttausende von Arbeitern ein Zuhause erhielten, stets in der Nähe riesiger Industrieanlagen, in denen – nimmt man das Beispiel Charkiw – bis heute Landmaschinen produziert werden. „Mein Vater hat früher in der Traktorenfabrik gearbeitet, ist aber nun in Rente“, sagt Jewgenija.

Es seien schwierige Zeiten gewesen nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991, die schönen Häuser habe man kaum noch gepflegt. Tatsächlich haben die Straßen Schlaglöcher. Putz bröckelt von den Wänden, Unkraut überzieht ausgetretene Pfade zwischen Wohnblocks, die Pfähle der gemeinnützigen Trockenplätze für Wäsche rosten in den Höfen. „Mehrere Abteilungen des Traktorenwerkes mussten schließen, viele Arbeitsplätze gingen verloren. Soviel ich weiß, kooperieren die Besitzer im Augenblick mit einem chinesischen Unternehmen. Bisher aber sinkt der Ausstoß noch immer,“ sagt Borisowa, bevor sie sich verabschiedet und um eine Ecke biegt.

Neben den Ideen der Vergangenheit und postsowjetischem Verfall bezeugt ChTS auch dunkle Geschichte. Einst arbeitete die Chefetage parteitreuer Architekten und Ingenieure mit einem an Fanatismus grenzenden Eifer und Enthusiasmus. Es ging darum, Traktorenwerk und Wohngebiet schnellstmöglich zu bauen, um ein Zeichen des Kommunismus zu setzen. Dann jedoch wurden diese Idealisten vom stalinschen Staatsterror der Jahre 1937/38 hart getroffen. Zusammen mit Tausenden fiel auch Boris Bibikow innerparteilichen Säuberungen zum Opfer. Der leidenschaftliche Kommunist hatte beim Bau der ChTS eine Schlüsselrolle gespielt. Sein Enkel, der Journalist Owen Matthews, schildert das Schicksal seines Großvaters, besonders den gegen ihn inszenierten Prozess, in seinem Buch Winterkinder, erschienen 2015. Er ist damit jedoch keinesfalls der Einzige, den die Geschichte bewegt.

An einem Tisch in einer Bäckerei des historischen Viertels verzehrt ein älteren Herr ein Croissant und trinkt einen Kaffee. Der 70-jährige Wladimir Iljitsch spricht gern über ChTS, wo er sein ganzes Leben gewohnt und gearbeitet habe. Die tragische Zeit, als die Revolution während der späten 1930er Jahre endgültig verraten wurde, kennt er durch seinen Vater. „Schon als junger Mann entschied er sich gegen übertriebenen Ehrgeiz. Mein Vater hatte das Gefühl, Mitglied in der Partei zu sein, das berge zu große Gefahren. Vielleicht hat ihn das vor dem Terror gerettet.“

Er bürstet ein paar Krümel von seiner Jacke und wirft den Pappbecher in einen Mülleimer. Ja, sein Vater habe zusammen mit Boris Bibikow an der Fabrik gebaut. Draußen geht er eine Straße hinunter und erreicht bald einen Park, der auf elegante Weise das Wohngebiet von der Industriezone trennt. Gerade werden Bäume und Büsche abgeholzt, um für hässliche, viel zu hohe Betonblöcke Platz zu schaffen. Ganz ohne Gespür für die Eigenart dieses Stadtbiotops. „Jeder macht, was er will,“ sagt Wladimir und schüttelt den Kopf.

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