100 Tage Regierung Giorgia Meloni in Italien: Mehr Kontinuität als erwartet

Zwischenbilanz Das Rechtskabinett betreibt gern Symbolpolitik, wenn Werte wie Gott, Vaterland und Familie hofiert werden, doch bleiben ansonsten die wirklichen Brüche weitgehend aus
Exklusiv für Abonnent:innen | Ausgabe 05/2023
So lange sich Georgia Meloni nicht Wladimir Putin an die Brust wirft, ist ja alles in Ordnung
So lange sich Georgia Meloni nicht Wladimir Putin an die Brust wirft, ist ja alles in Ordnung

Foto: Antonio Masiello/Getty Images

Nicht reden, sondern handeln und diejenigen unterstützen, die es anpacken – das war das wichtigste Versprechen der italienischen Rechtsregierung bei ihrer Vereidigung Ende Oktober. Die Verteilung der Ministerien verlief weitgehend problemlos. Schließlich hatte das Wahlergebnis vom 25. September die Kräfteverhältnisse im Rechtsblock geklärt – 26 Prozent für Giorgia Melonis Partei Fratelli d’Italia (FdI), nur jeweils etwas mehr als acht Prozent für Matteo Salvinis Lega und Silvio Berlusconis Forza Italia. Da musste sich Salvini, der gern wieder als Innenminister den starken Mann gespielt hätte, mit dem Ressort für Infrastruktur zufriedengeben. Was folgte, war erst einmal Symbolpolitik, darunter die Umbenennung des Familienministeriums, das jetzt auch für „Geburtenförderung“ sorgen soll – im Rahmen der „natürlichen Ordnung“ und im Einklang mit Melonis Bekenntnis zu „Gott, Vaterland, Familie“ (der Freitag 43/2022).

Sezession der Reichen

Bei der realen Politik, wenn es um die Verteilung der Ressourcen geht, sind in der Koalition noch einige Konflikte zu erwarten. In der Bevölkerung dagegen lassen sich Gewinner und Verlierer schon jetzt ziemlich klar unterscheiden. Nach einem aktuellen Oxfam-Bericht verfügen in Italien die reichsten fünf Prozent über mehr Vermögen als die unteren vier Fünftel. Durch erste Maßnahmen des Meloni-Kabinetts nehmen die Ungleichheiten weiter zu. Mehrere Steueramnestien begünstigen die Besserverdienenden, auch Teile der Mittelschicht und Selbstständige finden sich entlastet. Dagegen werden im laufenden Jahr mehr als 600.000 Arme das ohnehin karge Bürgereinkommen verlieren, weil sie – obwohl arbeitsfähig – angeblich lieber auf der faulen Haut liegen. 2024 soll das Bürgereinkommen dann ganz abgeschafft werden.

Auch ein Job bewahrt nicht vor Armut. Einen Mindestlohn soll es mit dieser Regierung nicht geben, und die meisten neuen Arbeitsverhältnisse sind prekär: zeitlich befristet und in Teilzeit. Nach Berechnungen des größten Gewerkschaftsbundes CGIL verlieren auch Millionen Rentner an Kaufkraft. Frauen sind gleich mehrfach betroffen. Zwar will Meloni bislang nicht, wie befürchtet, das Abtreibungsrecht verschärfen. Aber schon unter der geltenden Gesetzeslage ist für viele Frauen im Süden des Landes eine Schwangerschaftsunterbrechung nur unter größten Schwierigkeiten möglich. Familienministerin Eugenia Roccella (FdI) reicht das nicht – in einem Fernsehinterview beklagte sie, dass Frauen „leider“ ein Abtreibungsrecht hätten.

Schärfere Rhetorik bei weitgehend gleichbleibender Misere kennzeichnet auch die Migrationsabwehr der jetzigen Administration. Im November, als mehreren Rettungsschiffen humanitärer Organisationen ein italienischer Hafen verweigert wurde, ließ man es noch auf einen Konflikt mit Frankreich ankommen. Inzwischen wurde unter dem parteilosen Innenminister Matteo Piantedosi eine andere, vermutlich ebenfalls illegale Praxis eingeführt: Schiffe mit aus Seenot geretteten Menschen an Bord müssen künftig einen von den Behörden benannten Hafen ansteuern, dürfen aber auf dem Weg dorthin keine weiteren Schiffbrüchigen aufnehmen. Besonders perfide: Die angewiesenen Häfen liegen weit entfernt in Mittel- oder Norditalien, die Reise dauert länger und kostet mehr. Vor allem jedoch ist ein Schiff für weitere Einsätze erst einmal lahmgelegt.

Während sich die Wirtschafts- und Sozialpolitik der rechten Regierung kaum von der ihrer Vorgängerin, der extrabreiten Koalition unter dem parteilosen Banker Mario Draghi, unterscheidet, soll es beim Umbau der Institutionen einen Bruch geben. Arbeitstitel hierfür sind die „differenzierte Autonomie“ der Regionen und der „Presidenzialismo“, die Einführung eines Präsidialsystems, um die Zentralregierung zu stärken. Während Letzteres ein langwieriger Prozess werden dürfte, geraten die Pläne in Sachen Regionalismus schon recht konkret. Federführend ist Minister Roberto Calderoli von der Lega, die ganz offen die Förderung ihres Stammlandes im Norden betreibt. Kritiker, darunter viele Bürgermeister aus dem Süden, nennen das eine „Sezession der Reichen“. Für die traditionell zentralistischen Neofaschisten ist der Regionalismus eine Kröte, die sie schlucken müssen, aber augenscheinlich kein Konflikt, der die Koalition spalten könnte.

Zu den eingängigen Schlagworten, mit denen namentlich Meloni ihre Wählerschaft bedient, gehört neben „Nation“ auch „Souveränität“, verstanden als Unabhängigkeit in der Versorgung mit Lebensmitteln und Energie. Hinzu kommen systematische Anstrengungen, über den Bildungssektor Hegemonie zu gewinnen. Stolz auf die Leistungen nationaler Heroen soll künftig auch in den Schulen vermittelt werden. Ziel ist laut FdI-Programm die Verankerung eines „neuen italienischen Selbstbildes“. Zu diesem Zweck muss nicht nur, wie von Meloni vorgemacht, der historische Faschismus verharmlost werden. In den jüngsten Reden der Regierungschefin und ihres langjährigen Mentors, des neuen Senatspräsidenten Ignazio La Russa, wird auch die jüngere italienische Geschichte umgeschrieben: kein Wort zum antifaschistischen Widerstand der Resistenza und zum rechten Terror der „bleiernen Jahre“ ab 1969. Für La Russa, den notorischen Sammler von Mussolini-Büsten, waren die Rechtsterroristen Kämpfer mit eigenen Idealen, nur leider manchmal „zur falschen Zeit am falschen Ort“.

Größte Sorge der NATO

Italiens Partner, die so gern die „europäischen Werte“ bemühen, haben mit dieser Art Geschichtspolitik, soweit erkennbar, keine Probleme. Noch am Tag vor der Parlamentswahl hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gewarnt: „Wenn sich die Dinge in eine schwierige Richtung entwickeln, haben wir Instrumente zur Verfügung.“ In Italien sorgte diese kaum verklausulierte Drohung mit Sanktionen kurzfristig für Empörung. Inzwischen haben sich die Gemüter auf beiden Seiten wieder beruhigt. Denn die größte Befürchtung in der EU und der NATO war, dass Italien unter Meloni eine „russlandfreundliche“ Politik betreibt. Diese Sorge ist erledigt, seit die Koalition für das laufende Jahr weitere Waffenlieferungen an die Ukraine beschlossen hat. Auch in der Außen- und Militärpolitik steht Melonis Italien für Kontinuität.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden