Aufstehen auf Italienisch

Italien Gegen die Regierung wächst der Protest. Flüchtlingshelfer, Gewerkschaften, Alt-Linke tun sich zusammen
Ausgabe 46/2018
Pyrotechnik ist kein Verbrechen: Protestierende Studenten wedeln wütend mit dem Vizepremier
Pyrotechnik ist kein Verbrechen: Protestierende Studenten wedeln wütend mit dem Vizepremier

Foto: Michele Spatari/Zuma/Imago

Wann, wenn nicht jetzt? Der Titel von Primo Levis Roman drückt die Stimmung vieler aus, die derzeit gegen die Politik der italienischen Rechtsregierung auf die Straße gehen. Von einer neuen Lust am Demonstrieren berichtet das linksliberale Wochenmagazin L’Espresso. „Wann ist die nächste Demo? Ich bin dabei“, zitiert das Blatt einen anonymen Barbesucher, um die selbst in der bürgerlichen Mitte verbreitete Stimmung zu illustrieren. Auch wenn dabei Wunschdenken eine Rolle spielen mag – unzählige Protestaktionen belegen: Es gibt ein anderes, menschliches Italien, das von Matteo Salvinis rassistischen Tiraden und Luigi Di Maios penetrantem Selbstlob regelrecht angewidert ist.

Zum Modell solidarischen Zusammenlebens von Einheimischen und Migranten wurde das kalabrische Dorf Riace (der Freitag 42/2018). Es funktioniert seit 20 Jahren, soll aber nun von Staats wegen zerschlagen werden. Mit konstruierten, offensichtlich politisch motivierten Vorwürfen wurde Riaces Bürgermeister Domenico „Mimmo“ Lucano Anfang Oktober per Gerichtsbeschluss erst unter Hausarrest gestellt, dann seines Amtes enthoben. Er darf sein Dorf nicht mehr betreten, wurde aber durch öffentliche Auftritte zur Ikone des Widerstands gegen institutionellen Rassismus und staatliche Willkür. Einen Auftritt Lucanos im ersten Fernsehprogramm hatte die Lega zu verhindern versucht – vergeblich.

Vereint gegen Salvini

Nach einer Solidaritätsdemo, zu der am 6. Oktober etwa 6.000 Menschen in den abgelegenen Ort am Ionischen Meer strömten, gingen die Proteste weiter: dezentral am 27. Oktober in dutzenden Städten, dann, bisheriger Höhepunkt der Mobilisierung, am 10. November in Rom, wo annähernd 100.000 Menschen demonstrierten – „vereint und solidarisch gegen die Regierung, den Rassismus und das Salvini-Dekret“. Gemeint ist das Gesetz, das im Namen der „Sicherheit“ die letzten Reste des Asylrechts abschaffen würde. Am selben Tag protestierten in 60 Städten Tausende, überwiegend Frauen, gegen einen reaktionären familienpolitischen Gesetzentwurf des Lega-Senators Simone Pillon.

Bemerkenswert ist vor allem die Breite der Proteste. Beteiligt sind nicht nur linke und migrantische Gruppen, sondern auch Gewerkschaften, kirchliche Kreise, prominente Intellektuelle wie der Schriftsteller Roberto Saviano und Veteranen linker Bewegungen. Die Alt-Linke Luciana Castellina (der Freitag 27/2016), heute Mitglied der Sinistra Italiana, begrüßte in Riace etliche Kader der 1970er Jahre, die sich auf ihre alten Tage noch einmal auf die Straße begaben. Prominentester Teilnehmer: Adriano Sofri, seinerzeit Vorsitzender der linksradikalen Organisation Lotta Continua.

Der Kampf geht weiter. Dabei verhilft die Arroganz der Mächtigen auch lokalen Fällen von Diskriminierung zu landesweiter Aufmerksamkeit. So geschehen mit einer Verfügung der Kommunalverwaltung von Lodi bei Mailand, die Kinder aus 300 migrantischen Familien vom Besuch der Schulkantine ausschloss. Während Salvini die Bürgermeisterin öffentlich lobte, wurde der „Fall Lodi“ zum Synonym rassistischer Ausgrenzung – und zu einem Beispiel praktischer Solidarität: Eine Spendensammlung erbrachte so viel Geld, dass die betroffenen Kinder die neuen bürokratischen Schikanen umgehen und wieder in der Kantine essen können. Spenden flossen auch nach Riace, dessen Verwaltung in Zukunft auf staatliche Unterstützung verzichten will, und an das Projekt Mediterranea. Dessen Schiff, die „Mare Jonio“, ist seit Oktober wieder auf dem Meer zwischen Italien und Libyen unterwegs, um Geflüchtete in Seenot zu retten.

Dabei ist die praktische Solidarität mit Geflüchteten und Migranten zwar der dringlichste, aber bei weitem nicht der einzige Anlass zivilgesellschaftlicher Mobilisierung. Am 3. November stellten sich in Triest Tausende der neofaschistischen Partei Casa Pound Italia (CPI) entgegen. Gewalttaten von CPI-Militanten und die skandalöse Tatenlosigkeit des Staates haben auch der antifaschistischen Bewegung neuen Aufschwung verliehen. Dagegen laufen gewerkschaftliche Aktionen erst zögerlich an. Ein „Generalstreik“ kleinerer Basisgewerkschaften am 26. Oktober war eher symbolischer Natur. Dauerthema ist die immer weiter wachsende prekäre Beschäftigung zu Lasten unbefristeter Arbeitsverhältnisse. Für den 23. November ist ein Streik im Gesundheitswesen geplant. Auch Lehrer, Schüler und Studierende organisieren sich zur Durchsetzung elementarer Forderungen wie der Sanierung der maroden Gebäude, in denen sie arbeiten und lernen sollen.

Die Fünf Sterne gehen unter

Bisher gibt sich die Regierung von alldem unbeeindruckt. Wirkung zeigen die andauernden Proteste gegen teure und umweltfeindliche Großprojekte wie die Gasleitung TAP (Trans Adriatic Pipeline) zwischen der süditalienischen Region Apulien und Albanien oder die Hochgeschwindigkeitsstrecke TAV, die von Piemont aus nach Frankreich führen soll. Auch der Ausbau des von den USA betriebenen militärischen Radarsystems MUOS auf Sizilien birgt Konfliktstoff: An den Protesten gegen diese Projekte waren und sind Aktivisten der Fünf-Sterne-Bewegung führend beteiligt. Nun müssen sie erleben, dass ihre Minister in Rom akzeptieren, was die Partei bisher bekämpft hat. Abstimmungen über Sachfragen mit der Vertrauensfrage zu verbinden, widerspreche dem Grundverständnis der Fünf-Sterne-Bewegung, argumentieren einige wenige Dissidenten. Di Maio dagegen, der „capo politico“, mahnt ganz traditionell zur „Geschlossenheit“ und droht Abweichlern mit Parteiausschluss.

Das Wochenmagazin L’Espresso veröffentlichte jüngst unter der Überschrift „Fake Man“ eine umfangreiche Sammlung von Wortbrüchen Di Maios. Eine kleine Auswahl: Nie würde sich die Fünf-Sterne-Bewegung mit der Lega verbünden – Salvini sei ein „politischer Verräter“ und schlimmer als Renzi und Berlusconi zusammen; während der ersten Kabinettssitzung werde man innerhalb von 20 Minuten 30 Milliarden verschwenderisch ausgegebenes Geld einsparen; auch werde es mit der Fünf-Sterne-Bewegung keinerlei Steueramnestie geben; die Gasleitung TAP sei „ein Haufen Scheiße“ und völlig überflüssig. Hinzu kommt Selbstlob in einer Dimension, die an Silvio Berlusconi erinnert: Mit dem „Bürgereinkommen“ – einer Art Sozialhilfe von maximal 780 Euro im Monat – werde „die Armut abgeschafft“, verkündete Di Maio erst kürzlich.

Von dem mitunter chaotischen Bild, das die Fünf-Sterne-Bewegung abgibt, profitiert derzeit die Lega. In Umfragen auf nationaler Ebene liegen beide Regierungsparteien mittlerweile gleichauf bei etwa 30 Prozent. Bei den Parlamentswahlen im März hatte die Fünf-Sterne-Bewegung mit 32,7 Prozent noch fast doppelt so viele Stimmen bekommen wie die Lega, die 17,4 Prozent erreichte. Unter diesen Bedingungen erhält die Wahl zum Europäischen Parlament im Mai 2019 besondere Bedeutung. Sollte die Lega deutlich besser abschneiden, wäre eine von Salvini provozierte Regierungskrise mit anschließenden Neuwahlen durchaus möglich. Danach könnte, mit Salvini als Premier, eine noch rechtere Koalition die Regierung übernehmen: die Lega im Bündnis mit Berlusconis Forza Italia und den extrem rechten Fratelli d’Italia.

Die Linke im weiteren Sinne ist auf ein solches Szenario in keiner Weise vorbereitet. Der sozialdemokratische Partito Democratico (PD) besteht weiterhin aus verschiedenen konkurrierenden Strömungen. Sein ehemaliger Sekretär und Ministerpräsident für 1.000 Tage, Matteo Renzi, würde am liebsten eine ganz auf seine Person zugeschnittene Bewegung auf die Beine stellen, wie Emmanuel Macron das mit En Marche vorgemacht hat. Besonders realistisch ist das nicht.

Links vom PD ist es um die Erfolgsaussichten noch schlechter bestellt. Bei den Parlamentswahlen im März hatte die Bündnisliste LeU („Freie und Gleiche“) knapp die Drei-Prozent-Hürde übersprungen, während Potere al Popolo („Die Macht dem Volk“) mit nur einem Prozent gescheitert war. Eine gemeinsame Liste ist nicht in Sicht. Vielmehr dominieren in beiden Gruppierungen Spaltungstendenzen. Bei LeU dreht sich der Streit vor allem um das Verhältnis zum Partito Democratico: Während die einen immer noch Hoffnungen auf ein erneuertes Mitte-links-Bündnis setzen, wollen andere einen klaren Trennungsstrich und eine antineoliberale Opposition. Völlig ungewiss ist, wer die zersplitterte Linke einigen könnte. In der Not wird schon Riaces abgesetzter Bürgermeister Mimmo Lucano zum Hoffnungsträger gemacht – gegen seinen Willen. Eine Kandidatur für das Parlament oder ein Parteiamt hat er kategorisch ausgeschlossen.

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