Carrillos Umarmung der Utopie

DAS SAKRILEG VON MADRID Vor 25 Jahren begann der kurze Frühling des Eurokommunismus

Das Jubiläum bleibt heute fast unbemerkt. Dabei wurde das Ereignis Anfang März 1977 weltweit registriert und war in Teilen der westeuropäischen Linken mit einigen Erwartungen verbunden: die Konferenz von Madrid, auf der die drei größten kommunistischen Parteien Westeuropas die sakrosankte Führungsrolle der sowjetischen KP in Frage stellten und einen eigenständigen Weg zum Sozialismus proklamierten. Mitten im Kalten Krieg war dieser Dissens in der "kommunistischen Weltbewegung" gerade auch für deren Gegner eine Sensation.

Es war am 3. März 1977, knapp anderthalb Jahre nach dem Tod des spanischen Diktators Franco, als die eurokommunistische Troika in Madrid vor die Weltpresse trat: der Spanier Santiago Carrillo (PCE), der Franzose Georges Marchais (PCF) und der Italiener Enrico Berlinguer (PCI). Ihre Erklärung war kurz. Angesichts der "wirtschaftlichen, politischen, sozialen und moralischen" Krise in den drei Ländern sei es notwendig, "das breiteste Einverständnis der politischen und gesellschaftlichen Kräfte herbeizuführen, die bereit sind, zu einer Politik des Fortschritts und der Erneuerung beizutragen". Ziel sei es, "den Sozialismus in Demokratie und Freiheit zu errichten" - ein Bekenntnis zur Unantastbarkeit der individuellen wie der kollektiven Freiheiten (Presse- und Versammlungsfreiheit, Wahlrecht, Demonstrationsfreiheit und Streikrecht) und eine kaum verhüllte Kritik am sowjetischen Einparteiensystem, durch dessen Raster in den Ländern des "realen Sozialismus" elementare Freiheitsrechte zum Opfer fielen. Der Begriff "Eurokommunismus" kam in der Erklärung nicht vor. Schon vorher hatten sich die "Eurokommunisten" halbherzig davon distanziert: Sie hätten das Wort nicht erfunden, das dadurch ausgelöste Echo aber sei ein Beweis für vorhandene Erwartungen.
Auch wollten sie weder ein neues Modell schaffen, noch einen Dritten Weg gehen. Vielmehr müsse es viele Wege zum Sozialismus geben, erklärte Carrillo. Sein Anfang 1977 erschienenes Buch Eurokommunismus und Staat war als ein Versuch gedacht, "an den Realitäten unseres Kontinents anzuknüpfen ... und ihnen die Entwicklung des revolutionären Weltprozesses ... anzupassen."
Lenins Auffassung vom Staat als "Organ der Klassenherrschaft" setzte Carrillo die These von der "letztlich entscheidenden Rolle der ideologischen Staatsapparate des Kapitalismus" entgegen. Dass der "kapitalistische Staatsapparat zu einem brauchbaren Werkzeug zum Aufbau der sozialistischen Gesellschaft" werden könne, stand für ihn außer Zweifel. Die Kommunisten sollten die voranschreitende "Demokratisierung des Staatsapparates" durch Reformen forcieren. Hindernisse bei einem demokratischem Weg zum Sozialismus sah Carrillo kaum. Die Niederlagen des Imperialismus und Kolonialismus in China, Kuba, Vietnam und einigen afrikanischen Ländern hätten dazu geführt, "dass ein Teil der herrschenden Klassen zugänglicher" werde. Gewaltsamer Widerstand gegen progressive Bewegungen beschränke sich "auf Kernminderheiten dieser Klassen".

Nicht die Gefahr eines Putsches und Bürgerkrieges heraufbeschwören

Vor allem am Beispiel Italien wurde seinerzeit deutlich, was Eurokommunismus in der Praxis bedeutete und welche lange Vorgeschichte das spektakuläre coming out von 1977 hatte. Seit der "Wende von Salerno" im März 1944 hatte der PCI die sozialistische Revolution zugunsten einer "progressiven Demokratie" zurückgestellt. Diese Orientierung entsprach auch dem Interesse der Sowjetunion, der es nach 1945 zunächst um ihre unmittelbaren Einflusszonen in Osteuropa ging. Italien galt als westliche Interessenssphäre und nahm den von den USA diktierten Entwicklungsweg: Mitgliedschaft in der NATO, Wiederaufbau mittels Marshall-Plan, Antikommunismus als Staatsdoktrin.
Nach Stalins Tod im Jahre 1953 postulierte Palmiro Togliatti - PCI-Sekretär von 1926 bis 1964 - einen italienischen Weg zum Sozialismus und sprach vom Prinzip des Polyzentrismus in der kommunistischen Weltbewegung. Auch das richtete sich bereits gegen den Führungsanspruch der KPdSU, lief aber noch nicht auf einen Bruch mit Moskau hinaus. Die entscheidende strategische Wende vollzog der PCI erst unter Enrico Berlinguer, der 1972 zum Parteisekretär gewählt wurde. Nach dem Putsch in Chile vom 11. September 1973 veröffentlichte Berlinguer eine Artikelserie, die er mit der Überschrift Gedanken zu Italien nach den Ereignissen in Chile versah. Darin tauchte zum ersten Mal der Begriff "Historischer Kompromiss" auf: bezogen auf eine spürbare Detente im Verhältnis zur regierenden Democrazia Cristiana (DC). Denn - so Berlinguer - "die Gegenüberstellung und der frontale Zusammenstoß der Parteien, die eine Basis im Volk haben und die von breiten Bevölkerungsschichten als ihre Vertretung angesehen werden, würden zu einer Spaltung, zu einer wirklichen Halbierung des Landes führen, was für die Demokratie verhängnisvoll wäre und sogar dem demokratischen Staat die Grundlage des Überlebens entziehen würde."
Mit anderen Worten: Die Bildung einer linken Regierung würde die Gefahr eines Putsches und Bürgerkrieges heraufbeschwören; deshalb sei das Ziel nicht mehr eine "Linksalternative", sondern eine "demokratische Alternative": eine Verständigung der kommunistisch und sozialistisch orientierten Volkskräfte mit den katholisch eingestellten Kräften des Volkes. Das lief auf eine Koalition mit der DC hinaus, die dann 1978 auch geschlossen wurde, ohne dass der PCI allerdings direkt an der Regierung der nationalen Solidarität unter Giulio Andreotti beteiligt wurde. Die durchaus berechtigte Furcht vor einem Rechtsputsch stand auch hinter der Entscheidung des PCI, Italiens NATO-Mitgliedschaft nicht anzutasten. Diese Angst wurde nach den Wahlerfolgen des PCI im Juni 1975 (32 Prozent bei den Regionalwahlen) und genau ein Jahr später (34,4 Prozent bei den Parlamentswahlen) eher noch größer, als erstmals eine Linksregierung rechnerisch möglich wurde. Stattdessen tolerierte der PCI das Minderheitskabinett der DC, die 1976 mit einem Wähleranteil von 38,7 Prozent stärkste Partei Italiens geblieben war.
Seinerzeit sahen die Führungen der großen kommunistischen Parteien Westeuropa nicht zuletzt die "Volkskräfte christlicher Prägung" auf dem Vormarsch. Suggerierte dieser Begriff so etwas wie Bündnispolitik von unten, so sah die Praxis allerdings anders aus: Der PCI (die Partei zählte Mitte der siebziger Jahre 1,5 Millionen Mitglieder) paktierte mit Giulio Andreotti, die französische KP unterwarf sich dem Sozialisten Francois Mitterrand in einer Linksunion, und die Carrillo-Partei machte ihren Frieden mit der spanischen Monarchie.

Italien für den "sowjetischen Expansionismus" sturmreif machen

Dennoch war es nicht "eine Tendenz zum Rechtsopportunismus", die warnende Reaktionen aus dem eigenen Lager heraufbeschwor. Als einer der ersten geißelte der bulgarische KP-Vorsitzende Todor Shiwkow die "durch und durch antisowjetische Konzeption" des Eurokommunismus, den er als Manöver des Imperialismus zur Spaltung des sozialistischen Lagers hinstellte. Wadim Sagladin (Ko-Direktor der internationalen Abteilung des ZK der KPdSU) schrieb Begriff und Konzeption des Eurokommunismus Zbigniew Brzezinski, dem Sicherheitsberater des damaligen US-Präsidenten Carter, zu. Demgegenüber trat der Vorwurf in den Hintergrund, die eurokommunistischen Kräfte machten einen Prozess der "Sozialdemokratisierung" durch. Vollständig ausgeklammert wurden in den realsozialistischen Polemiken die Kritik der Eurokommunisten an den undemokratischen Verhältnissen in Osteuropa und ihr Versprechen, Parteienpluralismus, Streikrecht, Presse- und Versammlungsfreiheit auch im Sozialismus zu gewähren.
Derweil sahen Konservative im Eurokommunismus nur ein Täuschungsmanöver. Für sie waren die italienischen, französischen und spanischen Kommunisten bestenfalls Moskaus nützliche Idioten. Eine Mehrheit für den PCI, so die gern kolportierte Warnung, würde Italien für den "sowjetischen Expansionismus" sturmreif machen. Den Wahrheitsbeweis mussten die Protagonisten dieser These nicht antreten. Der Boom des Eurokommunismus blieb auf die Zeit zwischen 1975 und 1978 beschränkt. Als internationale Parteienallianz und politisch relativ homogene Strömung überdauerte er nur ein paar Jahre. Bald gab es Streit um die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft (PCI und PCE waren dafür, der PCF dagegen) und vor allem um die sowjetische Invasion in Afghanistan, die von der französischen KP gebilligt, von der italienischen als "offensichtlich imperialistisch" verurteilt wurde.
Während in Frankreich die Kommunisten in den folgenden Jahren innenpolitisch einem Zickzackkurs folgten und bei Wahlen stetig verloren, war der Niedergang der in sich zerrissenen spanischen KP besonders rasant. Santiago Carrillo, der manchen als Erfinder des Eurokommunismus gilt, versuchte vergeblich, den Zerfall durch administrative Maßnahmen aufzuhalten. Allein der PCI ging in Italien den Weg der Sozialdemokratisierung bis zu Ende. Als seine größte Nachfolgepartei, der PDS (ab 1998 DS), Regierungspartei wurde, waren allerdings noch einmal fast 20 Jahre vergangen. Was sich daraus mit der Mitte-Links-Allianz Ulivo ergab, kann selbst bei größtem Wohlwollen nicht als Erfolgsgeschichte gedeutet werden.

Weitere Texte zum Eurokommunismus folgen in der nächsten Ausgabe.

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