Der Sieg der Bestie

Italien Nach der EU-Wahl kann Matteo Salvini beim Regieren ständig die Machtfrage stellen
Ausgabe 22/2019
Das digitale Zeitalter verschafft so manchem Anführer Omnipräsenz
Das digitale Zeitalter verschafft so manchem Anführer Omnipräsenz

Foto: Miguel Medina/AFP/Getty Images

Das erste Foto nach dem Triumph zeigt Matteo Salvini mit einem handgeschriebenen Zettel: „Lega stärkste Partei. Danke!“ Nicht improvisiert, sondern einstudiert wirkten die folgenden Auftritte am Abend der Europawahl: Mehrfach küsste der Sieger einen Rosenkranz und dankte dem lieben Gott, der „nicht Matteo Salvini hilft, sondern Italien und Europa, um wieder Hoffnung, Stolz, Wurzeln und Sicherheit zu finden“. Fast schon demütig beteuerte Salvini, die Regierungsarbeit bis zum Ende der Legislaturperiode fortsetzen und an dem vor einem Jahr beschlossenen Programm festhalten zu wollen. Auch zusätzliche Posten werde die Lega natürlich nicht verlangen.

Diese demonstrative Bescheidenheit überrascht. Denn das italienische Wahlergebnis hat die Kräfteverhältnisse in der derzeitigen Koalition auf den Kopf gestellt. Mit mehr als 34 Prozent konnte die Lega ihren Stimmenanteil innerhalb eines Jahres fast verdoppeln, beim nationalen Parlamentsvotum am 4. März 2018 hatte sie 17,4 Prozent erreicht. Demgegenüber halbierte sich beim Lega-Koalitionär Fünf-Sterne-Bewegung (MoVimento Cinque Stelle/M5S) der Stimmenanteil, der vor einem Jahr verzeichnet wurde: Von 32,7 blieben 17,0 Prozent. Damit sind die Cinque Stelle nur noch drittstärkste Kraft hinter dem sozialdemokratischen Partito Democratico (PD), der fast 23 Prozent verbuchen konnte.

Verhöhnte Humanität

Mit Blick auf das Europaparlament glaubt der Lega-Chef, dass den Parteien der neuen Rechten mit dieser Wahl ein Mandat für Veränderungen in Brüssel erteilt wurde. Zwar konnte der Nationalistenblock, dem die Lega angehört, seine Sitze in Straßburg auf 58 erhöhen, doch bleibt dieses Ergebnis deutlich hinter den Erwartungen zurück, falls sich keine weiteren Parteien der Europäischen Allianz der Völker und Nationen (EAPN) anschließen.

In Italien selbst kann Matteo Salvini nun noch mehr als bisher die Regierungspolitik bestimmen. Jetzt will er Tempo machen, vorrangig bei der inneren Sicherheit und der Steuerpolitik. Die versprochenen Wohltaten für Unternehmen und Besserverdienende, von der Stammwählerschaft in den Nordregionen sehnsüchtig erwartet, sollen nun recht zügig in Angriff genommen werden. Das verspricht weiteren Streit mit dem Koalitionspartner, der die begrenzten Mittel lieber für die fälschlich „Bürgereinkommen“ genannten Sozialleistungen ausgeben will, vorrangig für Bedürftige in Süditalien.

Konfliktreich könnte sich auch die Umsetzung von Salvinis Lieblingsprojekt gestalten. Bis kurz vor dem Wahltag hatte er Druck gemacht, um ein umstrittenes „decreto sicurezza“ (Sicherheitsdekret) durchzusetzen. Das scheiterte am Widerstand des Regierungspartners, der dem Freund-Feind nicht noch einen weiteren Triumph bescheren wollte. Nun wird das Dekret voraussichtlich in allernächster Zeit verabschiedet. Der vom Innenministerium zusammengestellte Maßnahmenkatalog ist ein Hohn für Rechtsstaatlichkeit und Humanität, dazu vermutlich – zumindest in Teilen – verfassungswidrig. Aktivisten der Seenotrettung drohen hohe Geldstrafen. Auch das Demonstrationsrecht wird verschärft: Demnach sollen die Organisatoren zahlen, wenn es bei Protesten zu Sachschäden kommt. Statt eines Richters könnte dann ein Kommissar der Exekutive über die Haft von Verdächtigen entscheiden. Befugnisse werden der Justiz entzogen und der Exekutive – besonders dem von Salvini geleiteten Innenministerium – übertragen. Die Einschränkung der Gewaltenteilung und die Vielzahl repressiver Maßnahmen gegen zivilen Ungehorsam würden in Teilen noch über die Paragrafen des faschistischen Polizeigesetzes von 1931 hinausgehen, kritisiert Patrizio Gonnella von der Bürgerrechtsorganisation Antigone.

Die angeblich bedrohte innere Sicherheit, immer verknüpft mit der Migration, war schon im Wahlkampf das zentrale Thema der Lega. Mit der Anzahl öffentlicher Auftritte, auf Plätzen wie auch im Fernsehen, hat Salvini die Konkurrenz weit hinter sich gelassen. Hinzu kam eine massive Kampagne via Facebook, organisiert vom Lega-Medienzentrum mit dem Kampfnamen „La Bestia“ (die Bestie). Dessen Spezialität sind Videos von Gewalttaten, fast immer begangen von „migrantisch“ aussehenden Tätern. Trotz drastisch zurückgegangener Flüchtlingszahlen bleibt so die vermeintliche Bedrohung von außen ständig präsent.

Ob der dumpfe Slogan „Prima gli italiani“ (Italiener zuerst) der Lega auf Dauer reicht, um ihren Stimmenanteil zu halten oder gar auszubauen, ist eine andere Frage. Denn von den versprochenen sozialen Wohltaten werden nur wenige profitieren. Matteo Renzi, ehemaliger Sekretär des Partito Democratico und Premierminister von 2014 bis 2016, der sich für ein Comeback bereithält, gibt sich überzeugt, dass das Hoch der Lega nicht lange anhalten werde. Schließlich seien seine Landsleute „pragmatisch und empfindlich“, wenn es um ihr Geld geht. Deshalb glaubt er: „Beim nächsten Mal sind wir wieder dran.“

Partner Berlusconi

Allerdings ist das mehr als fraglich. Wahrscheinlicher wäre eine noch rechtere Koalition, bestehend aus der Lega, den postfaschistischen Fratelli d’Italia, die auf 6,4 Prozent kamen, und Silvio Berlusconis Forza Italia. Letztere erreichte zwar nur 8,8 Prozent, kann aber nach wie vor entscheidende Stimmen in der konservativen Mitte abholen. Berlusconi sieht sich denn auch als unverzichtbaren „moderaten“ Partner in einem wiederbelebten Mitte-rechts-Bündnis (centrodestra).

Ob und wann es dazu kommt, entscheidet Salvini. Er kann die Koalition mit den Fünf Sternen jederzeit platzen lassen und Neuwahlen erzwingen. Nach heutigem Stand wäre dann eine rechte Mehrheit – ohne die Cinque Stelle – so gut wie sicher. Kaum nachvollziehbar ist der Optimismus des neuen PD-Sekretärs Nicola Zingaretti, der auf eine alternative Mehrheit hofft. Zu diesem Zweck will er eine „moderate“ Mitte-links-Allianz (centrosinistra) organisieren, die sich an der „Mitte“ orientiert – weil man Wahlen „in der Mitte gewinnt, nicht links“. Den von Tony Blair und Gerhard Schröder geprägten Lehrsatz zu widerlegen, war Ziel der Liste La Sinistra (Die Linke). Gelungen ist es ihr nicht. Sie kam nur auf 1,8 Prozent und scheiterte damit deutlich an der in Italien geltenden Vier-Prozent-Hürde.

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