Linke Veteranen fühlten sich an eine historische Niederlage erinnert: Vor 70 Jahren, am 18. April 1948, hatte die Democrazia Cristiana überraschend deutlich die Parlamentswahlen gewonnen; die siegessichere sozialistisch-kommunistische Volksfront dagegen war über 31 Prozent nicht hinausgekommen. Eine herbe Enttäuschung, erinnert sich die 88-jährige Luciana Castellina (damals Partito Comunista, heute Sinistra Italiana), aber: „Am Tag danach gingen wir wieder an die Arbeit.“ Die Partei lebte, und der Kampfgeist ihrer Mitglieder war ungebrochen.
Nach dem Desaster des 4. März 2018 sieht das anders aus. 18,7 Prozent für Matteo Renzis Partito Democratico (PD), nur 3,4 für Die Freien und Gleichen (Liberi e Uguali/LeU) und 1,1 Prozent für Die Macht dem Volk (Potere al Popolo/PaP) markieren einen historischen Tiefpunkt. Für den regierenden PD war es eine Niederlage mit Ansage. Das von Matteo Renzi penetrant vorgetragene Selbstlob für angebliche Erfolge in der Wirtschafts- und Sozialpolitik konnte nicht überzeugen. Denn seine Reformen führten nicht, wie versprochen, zu mehr unbefristeten Arbeitsverhältnissen, sondern nur zu noch mehr prekären, schlecht bezahlten Jobs auf Zeit, insbesondere im Süden des Landes und unter jungen Leuten. Dort kam von den moderaten Zuwächsen des Bruttoinlandsproduktes wenig bis gar nichts an: Nach offiziellen Daten des staatlichen Statistikinstituts (Istat) leben mehr als 20 Prozent der Italiener und ein Drittel der Kinder in Armut oder sind von Armut bedroht. Laut der Nichtregierungsorganisation Oxfam besitzen die sieben reichsten Italiener ebenso viel wie die 18 Millionen ärmsten. Die Zahl der Menschen in absoluter Armut hat sich innerhalb der letzten zehn Jahre auf 4,7 Millionen verdoppelt.
Von „erfolgreichen Reformen“ kann also keine Rede sein. Das gilt auch für die Flüchtlingspolitik. Hier hielten sich Premier Paolo Gentiloni und Innenminister Marco Minniti vom Partito Democratico zugute, durch rigorose Abschottung und Abkommen mit Libyen die Einwanderung begrenzt zu haben. Die rassistischen Hardliner von der Lega konterten mit Tiraden gegen die „Invasion“, der mit massenhaften Abschiebungen zu begegnen sei. Leider hatten sie damit Erfolg: Die Lega gehört mit 17,4 Prozent der Stimmen zu den Wahlsiegern.
Hinzu kam, dass der PD vor der Wahl nur über eine einzige realistische Machtoption verfügte: in einer Großen Koalition mit Silvio Berlusconis Forza Italia. Das schreckte viele derer ab, die noch 2013 PD gewählt hatten. Fast ein Fünftel dieser vermeintlichen PD-Stammwählerschaft gab ihre Stimme diesmal der Fünf-Sterne-Bewegung (Movimento Cinque Stelle/M5S) und verhalf ihr damit zu sensationellen 32,7 Prozent: ein Protest gegen das politische „Weiter-so“, aber auch gegen die Selbstzufriedenheit des politischen Establishments. Dessen Exponenten heizten mit hämischen Kommentaren über die politischen Amateure bei den Fünf Sternen die verbreitete Stimmung gegen „die da oben“ zusätzlich an. Namentlich Matteo Renzi bekam das zu spüren. Nicht nur die schönfärberische Bilanz seiner „Tausend Tage“ an der Regierung, sondern auch sein arroganter Führungsstil weckten Rachegelüste: Angetreten als „Verschrotter“ überkommener Strukturen hat er, wie der Soziologe Marco Revelli schreibt, anstelle der Fiat-Arbeiter deren Boss Sergio Marchionne zum bevorzugten Ansprechpartner gemacht und jede Spur von „Andersartigkeit“ seiner Partei ersetzt durch das Bestreben, „wie alle“ zu sein.
Bedingtes Grundeinkommen
Die politische Klasse zu strafen, ist aber nur ein, wenn auch nicht zu unterschätzendes Motiv derer, die sich nun den Fünf Sternen zuwandten. Hinzu kommt, dass sie sich durch ihr Votum auch eine spürbare Verbesserung ihrer Lebensbedingungen erhoffen. Nach Einschätzung diverser Wahlanalytiker hat hier die M5S-Forderung eines Grundeinkommens (reddito di cittadinanza) eine wichtige Rolle gespielt. Anders als das bedingungslose Grundeinkommen enthält die M5S-Version diverse Einschränkungen. Es würde nicht mehr als neun Millionen italienischen Staatsbürgern zustehen und maximal 780 Euro monatlich betragen, wovon das Erwerbseinkommen abgezogen würde; außerdem entfiele der Anspruch, wenn der Bezieher drei Jobangebote abgelehnt hat. Trotz dieser Einschränkungen und seiner geringen Höhe würde es vielen Armen im Süden eine deutliche Verbesserung bringen. Das gilt auch für den Mindestlohn von neun Euro, den M5S fordert.
Umsetzen lässt sich beides nicht, weil die parlamentarische Mehrheit fehlt. Die hat auch der Rechtsblock mit 37 Prozent der Stimmen deutlich verfehlt. Spekulationen über eine „Koalition der Populisten“ – M5S und Lega – haben derzeit kaum eine sachliche Basis. Wie der Lega-Anführer Matteo Salvini beansprucht auch sein Kollege Luigi Di Maio (M5S) das Amt des Regierungschefs für sich. Letzterer gibt sich staatsmännisch und betont seine Wertschätzung für den Christdemokraten Alcide De Gasperi, den Sieger von 1948.
Fünf-Sterne-Gründer Beppe Grillo, der im Hintergrund agiert, flankiert dieses Bekenntnis durch eine Anleihe bei Darwins Evolutionstheorie: „Die Spezies, die überlebt, ist nicht die stärkste, sondern die am besten angepasste. Wir sind innerlich Christdemokraten, ein bisschen rechts, ein bisschen links, ein bisschen Mitte. Wir können uns an alles anpassen …“ Solche Signale werden auch international wahrgenommen. Die Financial Times, die Di Maio noch vor wenigen Wochen als „Euroskeptiker“ und Kämpfer gegen das „Establishment“ bezeichnet hatte, korrigierte sich nach der Wahl: „Di Maio versucht, die Fünf Sterne auf moderatere Positionen zu führen, insbesondere in Sachen Euro. Er trifft sich regelmäßig mit Wirtschaftsführern und europäischen Diplomaten und ist eigens nach London geflogen, um die Investoren zu beruhigen.“ Aus der EU kommen zwar immer noch Warnungen vor „den Populisten“. Offene Einmischungen in die italienische Regierungsbildung sind aus den europäischen Hauptstädten aber kaum zu erwarten.
In Rom hat derweil das große Taktieren begonnen. Auch Silvio Berlusconi, wegen des schwachen Abschneidens seiner Forza Italia (14 Prozent) kurzzeitig abgetaucht, ist wieder mit dabei. Er sieht sich weiterhin als „Regisseur“ des Rechtsblocks. Da er selbst von Gerichts wegen kein politisches Amt ausüben darf, könnte er – im Laufe der vermutlich langwierigen Suche nach einem Regierungschef – einen Mann seines Vertrauens als Retter präsentieren.
Derweil ist der Partito Democratico mit sich selbst beschäftigt. Erst auf massiven Druck hat Renzi seinen angekündigten Rücktritt nun doch sofort vollzogen – verbunden mit der Ankündigung, bei Gelegenheit an die Spitze zurückzukehren. Die große Mehrheit der PD-Parlamentarier will in die Opposition. Denn eine rechnerisch mögliche Koalition mit dem Rechtsblock, die Lega eingeschlossen, wäre selbstmörderisch. Auch eine Regierungsbeteiligung als Juniorpartner der Fünf Sterne ist denkbar, sie dürfte den Abwärtstrend der Partei aber ebenfalls weiter beschleunigen.
Die Kräfte links vom PD sind von den aktuellen Machtspielchen hinter den Kulissen ausgeschlossen. Potere al Popolo verpasste den Einzug ins Parlament deutlich, die Freien und Gleichen verfügen in beiden Kammern des Parlaments zusammen nur über 18 Sitze – von 951. Ob sie gemeinsam weitermachen, gar eine neue Partei gründen, ist offen. Schon während des Wahlkampfs gab es einige Kritik an der Art und Weise, wie die Liste als Bündnisprojekt mehr oder weniger prominenter Parteipolitiker von oben durchgedrückt wurde.
Nach dem enttäuschenden Wahlergebnis wird auch die zu starke Orientierung an den PD-Wählerinnen und -Wählern kritisiert. Der Erfolg der Fünf Sterne zeige, dass man viel mutiger und radikaler hätte auftreten müssen. Eine gemeinsame organisatorische Zukunft sei nur möglich, wenn man nicht nur politisch, sondern auch personell einen klaren Bruch mit dem PD vollziehe, sagte Nicola Fratoianni, Sekretär der an den Liberi e Uguali beteiligten Italienischen Linken (Sinistra Italiana/SI). Das alternativ immer mal wieder ins Spiel gebrachte Projekt eines neuen und potenziell mehrheitsfähigen Mitte-links-Bündnisses (Centrosinistra) ist in jedem Fall erledigt. Wahrscheinlich für lange Zeit.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.