Die Stunde des Pragmatikers

Italien Alle Parteien loben Regierungschef Conte für seine Corona-Politik. Doch die nächsten Wahlen könnte der Rechtsblock gewinnen
Ausgabe 32/2020

In Corona-Zeiten kann das vorkommen – der Regierung wird im Senat minutenlang applaudiert, die rechte Opposition ringt sich zu anerkennenden Worten durch, die italienische Politik kann überraschen. Und das gerade jetzt. Als das zweite Kabinett von Giuseppe Conte am 5. September 2019 vereidigt wurde, wagte kaum jemand Prognosen, wie lange es halten würde. Nun jedoch, nach fast einem Jahr, erzielt der Premierminister traumhafte Umfrageergebnisse. Zwei Drittel der Befragten bekennen sich zu einem Regierungschef, der lange als durchsetzungsschwacher „Professor aus dem Süden“ belächelt, dann aber mit der Corona-Krise zum resoluten Macher wurde. Offensichtlich sind auch Anhänger der Rechten ganz froh darüber, dass auf dem Höhepunkt der Pandemie der Pragmatiker Conte und nicht der Schreihals Salvini das Land führte.

Anwalt der Ungeduldigen

Als es um Kontaktbeschränkungen ging, änderte der Lega-Führer innerhalb von Tagen mehrfach seinen Kurs. Mal wollte er „alles schließen“, um bald darauf zu fordern, dass die Menschen wieder „hoffen, verdienen, ausgehen, arbeiten, träumen“ sollten – im Namen der Freiheit. Das war Ende April, zwei Wochen später stieg die Zahl der Corona-Toten in Italien auf über 30.000 – mehr als in jedem anderen europäischen Land.

Flankiert wurde Salvinis Agitation vom Unternehmerverband Confindustria, der 150.000 Firmen mit 5,5 Millionen Beschäftigten vertritt. Der erst im April gewählte Präsident Carlo Bonomi begann mit einer Kampfansage an die Regierung. Deren Politik des Lockdowns habe schlimmere Folgen als das Virus, insistierte er. Von den Gewerkschaften fühlte er sich beleidigt, als die beklagten, dass in vielen Betrieben gegen vereinbarte Schutzmaßnahmen verstoßen wurde. Solchen „Unterstellungen“ werde er mit einer Politik der „absoluten Härte“ begegnen, drohte Bonomi.

Viele Unternehmer, dazu Teile der liberalen und konservativen Presse verlangten früh eine Regierung der nationalen Einheit, unterstützt von parteilosen Technokraten. Dem schloss sich auch Matteo Salvini von der Tendenz her an. Je länger der Lockdown dauerte, umso mehr versuchten sich die Rechten als Anwalt der Ungeduldigen. Am 2. Juni, dem Nationalfeiertag Festa della Repubblica, demonstrierten in Rom auf der Piazza del Popolo die Lega, Fratelli d’Italia, Forza Italia und ultrarechte Splittergruppen gegen die Regierung. Die, so der keineswegs neue Vorwurf der „Souveränisten“, sei aus Brüssel und Berlin ferngesteuert. Unfähig zu einer Politik der nationalen Interessen, ließe sich Conte mit ein paar Milliarden aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) abspeisen, was zudem noch – siehe Griechenland – mit demütigenden Auflagen verbunden sein werde.

Mit dem Kompromiss des EU-Gipfels vom 21. Juli wurde diese Prognose weitgehend widerlegt. Italien erhält 209 Milliarden Euro aus dem Recovery Fund, um die Corona-Krise zu bewältigen, davon 82 Milliarden als Zuschüsse, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Für dieses Ergebnis wurde Conte in Italien gefeiert: als geschickter Verhandler, der das Bestmögliche herausgeholt habe. Sogar Giorgia Meloni, die mitunter um moderate Töne bemühte Chefin der postfaschistischen Fratelli d’Italia, lobte Conte. Salvini dagegen sprach von bedingungsloser Kapitulation und einem riesigen Betrug, weil mit den Zahlungen Italiens Souveränität verloren gehe.

Regionalwahl im September

Wie viel der EU-Kompromiss tatsächlich wert ist und wer in Italien davon profitiert, wird sich erst im nächsten Jahr zeigen. Denn Gelder fließen frühestens Anfang 2021, vielleicht noch später, und sie werden mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht denen zugutekommen, die am meisten unter der Krise zu leiden haben. Neben Arbeitsmigranten mit unsicherem Aufenthaltsstaus sind das, einem aktuellen Report des staatlichen Statistikinstituts (Istat) zufolge, vor allem in den südlichen Regionen lebende Frauen und junge Menschen, die einer prekären Beschäftigung nachgehen. Sie haben nicht nur ihre Jobs verloren, sondern auch keinen Anspruch auf Lohnersatzleistungen. Nach den Vorstellungen der Confindustria sollen vorrangig Betriebe von den EU-Hilfsgeldern profitieren. Dagegen fordern Umweltschutzverbände wie die Legambiente, Greenpeace oder Fridays for Future, dazu die Linkspartei Sinistra Italiana, Investitionen in alternative Energien, ökologische Landwirtschaft, eine auf die Schiene setzende Verkehrswende, kurzum: einen „Green New Deal“, der nicht zuletzt das soziale Gefälle reduzieren, wohlfahrtsstaatliche Leistungen garantieren und ein weitgehend privatisiertes Gesundheitswesen reformieren soll. „Kein Zurück zur desaströsen Normalität vor der Pandemie!“ lautet der Slogan, der Linke, Gewerkschaften und soziale Bewegungen eint. Heftig umstritten ist das Los des Bildungswesens. Schon früh war klar, dass die Schulen vor den Sommerferien, die von Mitte Juni bis Mitte September dauern, nicht wieder öffnen würden. Nun zeigt sich, vor dem Schulbeginn am 14. September erweisen sich bisherige Vorbereitungen als völlig unzureichend. Das Komitee „Priorità alla scuola“ (Vorrang für die Schule) fordert 15 Prozent der EU-Beihilfen für die Lehranstalten zu verwenden und verspricht „permanente Mobilisierung“. Am 26. September wird in Rom eine Großdemonstration erwartet. Wenige Tage nachdem viele der gerade wieder eröffneten Schulen als Wahllokale genutzt worden sind. Am 20. und 21. September stehen u. a. in der Toskana, in Venetien, Ligurien und in der Campania Regionalwahlen an.

Zugleich entscheidet ein landesweites Votum darüber, ob beide Parlamentskammern von derzeit 945 auf 600 Sitze verkleinert werden. Während sich bei diesem Votum eine deutliche Mehrheit für ein Ja abzeichnet, ist der Ausgang der Regionalwahlen offen. Hier wird sich zeigen, ob die Sympathien für Conte auch den ihn stützenden Parteien helfen oder ob der Rechtsblock zulegt. Nach aktuellen Umfragen vereint dessen Anhängerschaft knapp 50 Prozent der Wähler, sofern man Forza Italia hinzuzählt. Silvio Berlusconis Partei liegt stabil bei sieben Prozent. Deutliche Einbußen der Lega, die nur noch auf etwa 25 Prozent kommt, werden kompensiert durch massive Zugewinne der Fratelli d’Italia, die zwischen 15 und 18 Prozent gehandelt werden, ein Trend weiter nach rechts.

Insofern dürfte der große Wahltag Ende September auch die in Rom regierende Koalition beeinflussen. Derzeit sorgt die Frage, ob Italien bis zu 37 Milliarden Euro aus dem ESM beantragen soll, für einigen Dissens. Teile der Fünf-Sterne-Bewegung sind strikt dagegen, der Partito Democratico (PD) ist dafür – ebenso wie Berlusconi, dessen Parlamentarier zumindest von Fall zu Fall mit der Regierung stimmen könnten: ein Szenario mit unabsehbaren Folgen für die Koalition und ihren gefeierten Star Conte.

Von Jens Renner erschien jüngst das Buch Neuer Faschismus? Der Aufstieg der Rechten in Italien bei Bertz+Fischer

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