Fest im Griff eines Deliriums

Italien Trainer Marcello Lippi geht, Premier Silvio Berlusconi bleibt. Italiens WM-Pleite könnte trotzdem den Niedergang des regierenden Rechtsblocks beschleunigen

Dass Fußballbegeisterung zur Ersatzreligion wird, ist offensichtlich. Umstritten bleibt, ob sie damit auch – als „Opium des Volkes“ – dauerhaft Rauschzustände hervorrufen und die kollektiven Widerstandskräfte lähmen kann. Was im umgekehrten Fall passiert, wenn aus Begeisterung maßlose Enttäuschung wird, ließ sich nach der WM-Blamage der Squadra Azzurra studieren: Statt patriotischen Glücksgefühls verbreitete sich in Italien die realistische Sicht, dass es so nicht weitergehen kann – weder mit dieser lethargischen Mannschaft noch mit der herrschenden Politik, die bei den Armen spart und die Reichen (darunter auch Ball spielende Leistungsverweigerer) ungeschoren lässt. Einen Tag vor dem Generalstreik des linken Gewerkschaftsbundes CGIL kam die Einsicht zur rechten Zeit. Die CGIL jedenfalls verlautbarte, die Beteiligung an den Streiks und Demonstrationen des 25. Juni habe die Erwartungen weit übertroffen.

Jahrhundertspiel in Mexiko

Den Zusammenhang von sportlichem und politischem Versagen brachte am Streiktag die Zeitung Il Manifesto mit ihrer Titelseite auf den Punkt: Ein Foto zeigt den alternden Kapitän Fabio Cannavaro, der den weinenden Kollegen Fabio Quagliarella tröstet, daneben die doppelsinnige Schlagzeile Cambiamo Squadra („Lasst uns die Mannschaft wechseln“). Jener Cannavaro, vor vier Jahren Garant des WM-Sieges, erinnert im Übrigen auch an politisch bessere Zeiten. 2006 hatte die Mitte-Links-Allianz unter Romano Prodi gerade die Wahl gewonnen; dieser Erfolg und der WM-Sieg von Berlin veranlasste New-Labour-Vordenker Anthony Giddens seinerzeit, der Regierung Prodi eine glanzvolle Zukunft zu prophezeien.

So kann man sich täuschen. Geht man noch weiter zurück in der italienischen Fußballhistorie, zeigen auch andere Ereignisse, dass Erfolge des Nationalteams den Regierenden allenfalls kurzfristig Nutzen brachten. Bei der WM 1970 in Mexiko kam es zum legendären Halbfinale Italien gegen Bundrepublik Deutschland, das später zum „Jahrhundertspiel“ und zum „besten WM-Spiel aller Zeiten“ verklärt wurde. Italien gewann 4:3 nach Verlängerung; der Sportjournalist Antonio Ghirelli beschreibt in seinem Standardwerk über die Geschichte des italienischen Fußballs, wie in jener Nacht in Italien „28 Millionen Menschen – Männer, Frauen, Kinder, Alte, Kranke, Gefangene, Fans und Laien, Intellektuelle und Analphabeten, Kommunisten und Faschisten“ vor dem Fernsehgerät ausharrten und nach dem Schlusspfiff „Hunderttausende Verrückte auf die Straßen und Plätze strömten, fest im Griff eines Deliriums des Glücks und des patriotischen Enthusiasmus“.

Auch diese kollektive Euphorie war nicht von Dauer – Italien verlor das Finale gegen Brasilien mit 1:4, und das Leben normalisierte sich: Mit Regierungskrisen, Parteienstreit und Klassenkämpfen statt nationalem Taumel. Dessen Kurzlebigkeit war erneut 1994 zu erleben, als sich sogar Taktikfuchs Berlusconi verzockte. Nach zwei klaren Siegen bei den Parlaments- und den Europawahlen und dem Gewinn des Europäischen Landesmeister-Cups durch seinen AC Mailand hielt er Anfang Juli den Zeitpunkt für günstig, ein Dekret zum Wohle seiner Klientel zu erlassen: Danach hätte es in den allermeisten Strafverfahren statt Untersuchungshaft nur noch Hausarrest gegeben – bei Vorliegen entsprechender „überwachungstechnischer Voraussetzungen“, was bei Villenbesitzern, anders als bei Bewohnern von Mietshäusern, natürlich der Fall gewesen wäre.

Trotz des WM-Fiebers

Berlusconis Kalkül war, dass die gleichzeitig in den USA stattfindende WM die Aufmerksamkeit von diesem Schurkenstück ablenken würde. Am 13. Juli qualifizierte sich Italien für das Finale, einen Tag später, als dieses Ereignis die Zeitungen beherrschte, wurde auch der Inhalt des Dekrets veröffentlicht. Tausende von Protest-Faxen, die in den folgenden Tagen die Zeitungsredaktionen erreichten, belegen, dass auch das WM-Fieber die demokratische Wachsamkeit nicht völlig ausschalten konnte. Am 19. Juli musste Berlusconi das Dekret zurücknehmen – zwei Tage nach dem WM-Finale, das Italien im Elfmeterschießen gegen Brasilien verloren hatte. Zu denen, die dabei versagten, gehörte auch Berlusconis leitender Angestellter beim AC Mailand, Kapitän Franco Baresi. Das Bild, das ihn nach dem Fehlschuss zusammengesunken auf dem Rasen zeigt, wurde zum Symbol für eine empfindliche Niederlage Berlusconis; im Dezember des gleichen Jahres war seine erste Regierung am Ende.

Wenig deutet derzeit auf einen ähnlichen Gang der Dinge hin. Aber immerhin: Berlusconis Umfragewerte sind schlecht wie nie, Wirtschaftserfolge nicht in Sicht. Wie wohl hätten da Siege in Südafrika getan! Dass sie ausblieben, hat Berlusconi nicht weiter kommentiert, anders als nach der EM 2000. Damals hatte er – nach Italiens unglücklicher Finalniederlage gegen Frankreich – Nationaltrainer Dino Zoff rüde aus dem Amt gemobbt. Der aktuelle Coach Marcello Lippi ist von selbst gegangen und hat mit nobler Geste die „alleinige Verantwortung“ für das Desaster übernommen. Dass Berlusconi es ihm nachmacht, ist ungefähr so wahrscheinlich wie ein Sieg San Marinos bei der WM 2014.

Jens Renner ist seit 1994 Italien-Autor des Freitag

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