An Günther Wallraffs Buch Ganz unten fühlte sich der Kommentator der linken Tageszeitung Il Manifesto erinnert. Allerdings spielt sich das, was der Journalist Fabrizio Gatti auf den Tomatenfeldern der süditalienischen Region Apulien erlebte, eher noch weiter unten ab: bei den Wanderarbeitern aus Afrika und Osteuropa, die als Clandestini (illegalisierte Einwanderer) der Willkür von Unternehmern und Aufsehern ausgeliefert sind.
Eine Woche lag lebte und arbeitete Gatti, der sich als weißer Südafrikaner ausgab, zusammen mit Schwarzafrikanern, Rumänen und Bulgaren. Sein Bericht Io schiavo in Puglia ("Ich als Sklave in Apulien"), erschienen im Wochenmagazin L´Espresso am 7. September, hat Italien aufgeschreckt. Dass die Schilderung der Wahrheit entspricht, zieht niemand in Zweifel. Obwohl viele sich fragen, wie "das" möglich ist, nur wenige Kilometer entfernt von der Provinzhauptstadt Foggia und von den Badestränden der Halbinsel Gargano: Für einen bis zu 16 Stunden dauernden Arbeitstag erhalten die Erntehelfer 15 bis 20 Euro, die häufig mit Verspätung ausgezahlt werden; die Nacht verbringen sie in verdreckten Hütten; häufig fehlt sauberes Trinkwasser; ein wegen Krankheit versäumter Arbeitstag muss ohne Bezahlung nachgeholt werden; bewaffnete Aufseher zwingen Frauen zum Sex und sorgen ansonsten mit Schlägen und rassistischen Beleidigungen für ein gnadenloses Arbeitstempo; Dutzende Arbeiter, die es gewagt haben, dagegen zu protestieren, sind verschwunden, mehrere wurden nachweislich ermordet.
Der Zustand der Gesetzlosigkeit im "Dreieck der Schande" (L´ Espresso) um Foggia ist nur möglich, weil Polizei und Behörden wegsehen - oder, schlimmer noch, gemeinsame Sache machen mit den Besitzern der Latifundien. So tauchen häufig an Zahltagen Streifen von Carabinieri auf, um einige Clandestini mitzunehmen; während die übrigen flüchten, kann der Boss den Lohn behalten. Wenn einzelne Arbeitsmigranten gegen besonders brutale Übergriffe Anzeige erstatten, werden sie von der Polizei festgehalten und abgeschoben. So bleibt mangels Zeugen die Anzeige auch dann folgenlos, wenn die Polizei tatsächlich ermittelt - was allerdings die Ausnahme ist.
Dass Clandestini automatisch abgeschoben werden, wenn sie der Polizei in die Hände fallen, oder im Wiederholungsfall mit bis zu vier Jahren Gefängnis bestraft werden können, geht auf das von der Berlusconi-Regierung beschlossene "Gesetz gegen Einwanderung" zurück - benannt nach seinen Urhebern, Umberto Bossi (Lega Nord) und Gianfranco Fini (Alleanza Nazionale), ist es immer noch in Kraft. Dass die Bestimmungen dringend "modifiziert" werden sollen, stand zwar im Wahlprogramm des Mitte-Links-Bündnisses Unione, strittig ist aber, wie weit die Revision gehen soll. Unter dem Eindruck des Apulien-Skandals scheint man sich immerhin einig, dass Clandestini, die zur Polizei gehen, nicht abgeschoben werden, sondern ein zumindest befristetes Aufenthaltsrecht bekommen sollen, so jüngst das Innenministerium. In einigen Fällen wurde auch schon so verfahren.
Die Gewerkschaftsbünde CGIL, CISL und UIL fordern darüber hinaus ein Aufenthaltsrecht für alle unter sklavenähnlichen Verhältnissen leidenden Clandestini. Selbstkritische Gewerkschafter und Mitte-Links-Politiker gestehen auch ein, dass nicht allein die vom Bossi-Fini-Dekret verfügten Verschärfungen für ein unmenschliches Arbeitsregime auf dem Lande oder im Baugewerbe verantwortlich sind. Schon vorher - auch unter dem Mitte-Links-Kabinett, das 1996 bis 2001 regierte, wurde Einwanderung aus Ländern außerhalb der EU vorrangig als Problem der inneren Sicherheit behandelt.
Nichi Vendola (Rifondazione Comunista), seit April 2005 Präsident der Region Apulien, und Guglielmo Epifani, Sekretär des linken Gewerkschaftsbundes CGIL, wollen das ändern. Epifani beschwört heroische Zeiten: "Die Geschichte der Gewerkschaft ist voller Toter auf dem Lande." Dabei beruft er sich auf den kommunistischen Gewerkschaftsführer Giuseppe Di Vittorio (1892-1957), dem besonders die Tagelöhner des Südens am Herzen lagen. Vergleicht man deren Lage zu Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Sklaverei auf den Tomatenfeldern Süditaliens heute, fühlt man sich in der Tat um 100 Jahre zurückversetzt. Allein: Die Ausgebeuteten und Misshandelten sind keine Italiener.
Der parteilose Innenminister Giuliano Amato meint, das Problem durch noch höhere Barrieren an den Grenzen lösen zu können. Ende Juli appellierte er an die EU, noch mehr Druck auf die libysche Regierung auszuüben, damit diese schon auf ihrem Territorium Auswanderungswillige zurückhalte. Bundesinnenminister Schäuble reagierte wie gewünscht und schickte als Zeichen "europäischer Solidarität" Experten der Bundespolizei auf die südlich von Sizilien gelegene Insel Lampedusa, das erste Ziel vieler Bootsflüchtlinge aus Afrika.
Dass es trotz immer mehr perfektionierter "Flüchtlingsabwehr" weiter "illegale" Einwanderung geben wird, weiß auch die römische Regierung und hat die von Fabrizio Gatti enthüllten Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land verurteilt. Wenn das keine hohlen Phrasen gewesen sein sollen, müsste sich das Kabinett Prodi nicht nur mit den Landbesitzern anlegen, sondern auch mit Großhändlern und Industriellen. Sie sind es, die von den extrem niedrigen Arbeitskosten auf den Feldern am meisten profitieren, denn sie diktieren die jährlich sinkenden Preise. Im laufenden Jahr werden für eine Tonne Tomaten durchschnittlich 39 Euro gezahlt, die sich erst in den großen Konservenfabriken im Raum Neapel in "rotes Gold" verwandeln. Nach den jüngsten Offenbarungen betrachten sich die Padrones freilich als vollkommen unbelastet - von diesen Bedingungen im Süden, die schließlich ihre Gewinne garantieren, wollen sie nichts gewusst haben.
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