Der „Unverzichtbare“ geht. War er vielleicht nur müde, wie Silvio Berlusconi mutmaßte? Wohl kaum. Auch die Loblieder der internationalen Presse auf „Super-Mario“ sind kaum dazu angetan, die italienischen Kabalen zu durchschauen. Demnach waren es die verantwortungslosen Populisten, allen voran die unreifen Dilettanten von der Fünf-Sterne-Bewegung (Movimento Cinque Stelle/M5S), die den einzig am Gemeinwohl orientierten Retter des Vaterlandes aus parteipolitischem Kalkül zu Fall brachten. Bei nüchterner Betrachtung verwundert es eher, dass die von Draghi angeführte Koalition der „nationalen Einheit“ überhaupt so lange gehalten hat – immerhin mehr als 500 Tage.
Giuseppe Contes Agenda
Von allen italienischen „Anomalien“ der vergangenen drei Jahrzehnte war sie die absonderlichste. Getragen wurde die Allianz von den Rechtsparteien Lega und Forza Italia, mehreren Gruppierungen der bürgerlichen Mitte, den Fünf Sternen und dem Partito Democratico (PD). Mit Gesundheitsminister Roberto Speranza war auch das linke Bündnis der Freien und Gleichen (Liberi e Uguali/LeU) im Kabinett vertreten; freilich wechselten die LeU-Parlamentarier mit Draghis Amtsantritt in die Opposition – dorthin, wo ansonsten Giorgia Melonis postfaschistische Brüder Italiens (Fratelli d’Italia/FdI) den Ton angaben. In Sichtweite der ursprünglich für 2023 anberaumten Wahlen und ermutigt oder schwer verunsichert durch die entsprechenden Umfrageergebnisse sahen gleich mehrere Koalitionäre akuten Handlungsbedarf, allen voran Ex-Premier Giuseppe Conte, seit knapp einem Jahr Chef der Cinque Stelle.
Nach diversen Abspaltungen, dem Austritt von Außenminister Luigi Di Maio und angesichts desaströser Umfragewerte versuchte Conte, der bei den Wahlen 2018 mit Abstand stärksten Partei ein neues Profil zu verleihen. Zu diesem Zweck sandte er Draghi am 6. Juli in einem offenen Brief ein neun Punkte umfassendes Reformprogramm für die kommenden Monate. Ausgangspunkt seiner Argumentation waren die durch die Pandemie wie die Inflation verschärften sozialen Gegensätze, wörtlich: „die zunehmende Distanz zwischen Privileg und Mangel, zwischen Luxus und Elend“. Nötig sei ein „starkes Signal der Diskontinuität“, die Ausweitung des Bürgergeldes für die Armen, ein gesetzlicher Mindestlohn, die Umwandlung prekärer in unbefristete Arbeitsverhältnisse, Steuererleichterungen für niedrige und mittlere Einkommen sowie Investitionen in erneuerbare Energien. In der Summe war das ein fast schon verzweifelter Appell, Grundlinien der gemeinsamen Regierungspolitik zu diskutieren – keineswegs aber ein Ultimatum.
Das kam dann von Draghi: Er werde nur mit den Fünf Sternen weiterregieren. Die von Conte in Aussicht gestellte Tolerierung seines Kabinetts lehnte er ab. Auf Draghis Ultimatum folgte ein Veto von Silvio Berlusconi und Matteo Salvini, wonach die weitere Kooperation mit diesen verantwortungslosen Fünf Sternen weder jetzt noch in Zukunft möglich sei. Damit war das Ende der extrabreiten Koalition der „nationalen Einheit“ besiegelt. Eine Debatte über Contes Sozialprogramm fand nicht statt. Draghis Abschiedsrede im Senat enthielt neben allgemeinen Floskeln vor allem Selbstlob sowie Kritik an zentralen Anliegen der Fünf Sterne: Das Bürgergeld sei zwar notwendig, es wirke sich aber auch negativ auf den Arbeitsmarkt aus. Statt sich klar zum Mindestlohn zu bekennen, sprach er vage von „würdigen“ Einkommen und Wirtschaftswachstum, von dem auch die Armen profitieren könnten.
Das war ganz nach dem Geschmack der Rechten, die umgehend die Reihen schlossen. Unmittelbar nach Draghis Rücktritt traf sich Meloni mit Berlusconi in dessen römischem Domizil. Der Hausherr und bewährte Moderator des Rechtsblocks hatte schon einen bunten Strauß an Wahlversprechen gepflückt. Dazu gehörten weniger Steuern für alle und eine Mindestrente von 13 mal 1.000 Euro, auch für nicht erwerbstätige Mütter. Meloni äußerte zwar Bedenken bezüglich der Finanzierung, erneuerte aber ihren Anspruch auf das Amt der Regierungschefin, wenn ihre Partei nach dem gemeinsamen Wahlsieg im internen rechten Ranking vorn liegen sollte. Berlusconi wiederum will für seine Partei ein Drittel der aussichtsreichen Wahlkreise. Dass die drei rechten Parteien sich an solchen Fragen zerstreiten, ist unwahrscheinlich: Zu verlockend ist die Aussicht, die vorgezogenen Neuwahlen am 25. September zu gewinnen.
Nicht nur die aktuellen Umfragen deuten auf einen Sieg des Rechtsblocks hin. Auch das geltende Wahlrecht, das nach seinem Schöpfer Ettore Rosato (PD) benannte „Rosatellum“, begünstigt Bündnisse, die sich – wie die drei Rechtsparteien – verbindlich auf die Aufteilung der Wahlkreise verständigen. Etwa drei Achtel der Mandate gehen an die dort siegreichen Kandidaten, der Rest wird proportional verteilt, wobei eine Sperrklausel von drei Prozent für Listen und zehn Prozent für Listenverbindungen gilt. Wahlforscher haben errechnet, dass dem Rechtsblock 40 bis 45 Prozent der Stimmen für eine Zweidrittelmehrheit der Mandate in Abgeordnetenkammer und Senat reichen würden. Damit ließe sich auch die Verfassung ändern, ohne die Minderheit einbeziehen zu müssen.
Kaum linke Gegenwehr
Diese Besonderheiten zwingen die anderen Parteien zu rein „technischen“ Bündnissen. Dass sie sich gleichzeitig auf ein überzeugendes Reformprogramm einigen, ist nicht zu erwarten. Denn das vom Partito Democratico ausgemachte „breite Feld“ progressiver Kräfte ist, gelinde gesagt, ziemlich unübersichtlich. Die Fünf Sterne sind mehrfach gespalten und der PD, der sich als loyalste aller Draghi-Parteien verstand, möchte dessen Agenda fortsetzen.
Das wiederum ist für die kleineren linken Gruppierungen unannehmbar. Währenddessen kämpfen Gruppierungen der Mitte wie Italia Viva von Ex-Premier Matteo Renzi darum, wahrgenommen zu werden. Aller Rhetorik von ökologischem Umbau und sozialem Ausgleich zum Trotz dürfte mehr als ein Zweckbündnis zur Verhinderung eines rechten Durchmarsches kaum möglich sein. Das wäre nicht wenig. Ende Oktober jährt sich zum 100. Mal Benito Mussolinis „Marsch auf Rom“. Es folgten mehr als 20 Jahre Faschismus. Nun gilt es zu verhindern, dass Meloni und Partner dessen Erbe antreten.
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