Das „italienische Semester“ – die halbjährige EU-Ratspräsidentschaft – hat am 1. Juli begonnen, und seitdem fällt noch mehr Glanz auf den Superstar, der in der europäischen Presse wahlweise als Wiedergänger von Tony Blair oder Gerhard Schröder gefeiert wird: Italiens 39-jähriger Ministerpräsident Matteo Renzi. Schon der unerwartete Triumph seines Partito Democratico (PD) – 40,8 Prozent bei der Wahl zum Europäischen Parlament (EP) am 25. Mai – war allein dem dynamischen Macher zugerechnet worden, seinem Charisma und Sendungsbewusstsein.
Dass es links von der sozialdemokratischen „Partei der Nation“, wie Renzi den PD zu nennen pflegt, auch noch eine Opposition gibt, übersehen die meisten Beobachter. Etwas mehr als 1,1 Millionen Wähler Italiens entschieden sich bei der Europawahl für die linke Bündnisliste L’Altra Europa con Tsipras („Das andere Europa mit Tsipras“, dem Chef der griechischen Linksallianz Syriza). Es waren exakt 4,03 Prozent. 8.000 Stimmen weniger, und die Liste wäre an der italienischen Vier-Prozent-Sperrklausel gescheitert. Doch nun gehören auch drei italienische Abgeordnete zur Linksfraktion im Europaparlament: die parteilosen Barbara Spinelli und Curzio Maltese sowie Eleonora Forenza, Mitglied der Führung von Rifondazione Comunista (PRC).
Dass Renzis Sozialdemokraten zehnmal so viele Stimmen bekam, ist für die Linke nicht gerade ermutigend. Berücksichtigt werden muss jedoch, dass der jetzige Regierungschef – neben ehemaligen Anhängern Berlusconis und des bürgerlichen Zentrums um Ex-Premier Mario Monti – auch linke Wähler gewinnen konnte, die für das „kleinere Übel“ votierten. Zudem Protestwähler, die sich bei der Parlamentswahl 2013 für Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung entschieden hatten. Hier liegt ein für die Linke mögliches Potenzial, aus dem sich schöpfen lässt.
Gelingen wird das aber nur, wenn sie das tut, was sie schon nach dem Wahldebakel von 2008 (3,1 Prozent für die Regenbogenlinke) als allein erfolgversprechenden Weg aus der Krise erkannt hat: zusammen mit den sozialen Bewegungen in konkrete lokale Konflikte einzugreifen.
In vielen Regionen Italiens gibt es Basisströmungen, die einen politischen Richtungswechsel wollen: ein Recht auf die Stadt oder den gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Kultur. Sie verwahren sich gegen eine privatisierte Wasserversorgung, gegen Wohnungsnot, immer noch steigende Erwerbslosigkeit, auch rücksichtslosen Raubbau an der Umwelt. Für Letztgenanntes steht etwa die Bewegung im piemontesischen Susa-Tal, die sich gegen den Bau einer Trasse für einen Hochgeschwindigkeitszug zwischen Turin und dem französischen Lyon zur Wehr setzt.
Unüberhörbar ist auch der Protest gegen die für 2015 in Mailand geplante Weltausstellung Expo, die Unmengen an Geld verschlingt und der Korruption in der Kathedrale des Schmiergeldskandals aus den frühen Neunzigern zu neuer Blüte verhilft. Am anderen Ende Italiens, im südsizilianischen Niscemi, wehrt sich eine Bewegung gegen ein Satellitenkommunikationssystem der US-Marine, das auch für den Drohnenkrieg nutzbar ist. Um welche Dimensionen es dabei geht, ist den Kosten für dieses Projekt zu entnehmen: sie liegen bei mehr als sieben Milliarden US-Dollar.
In vielen großen Städten gibt es Protestaktionen für das Recht auf Wohnen. Allein in Rom leben mehr als 10.000 Menschen, darunter viele Migranten, in besetzten Häusern, die jederzeit geräumt werden können. Auch Streiks nehmen wieder zu. So legten in Rom Anfang Juni die Angestellten im öffentlichen Dienst die Arbeit nieder. Die sogenannten jungen Prekären in Callcentern streikten in allen Landesteilen gegen beschämende Arbeitsbedingungen und ebensolche Einkommen.
Der Historiker und Soziologe Marco Revelli, der für die Liste Tsipras im Europawahlkampf als Sprecher fungierte, hatte schon vorher darauf hingewiesen, dass sich dieses Bündnis erst nach der Wahl unbeschwert artikulieren könne. Es stimme ihn zuversichtlich, wenn hier Linke mehrerer Generationen fast überrascht festgestellt hätten, wozu sie fähig seien, „sofern sie eine Vergangenheit der Zersplitterung und Abgrenzung“ unter Gesinnungsfreunden hinter sich ließen.
Innerhalb der maßgeblich an der „Liste Tsipras“ beteiligten Partei Sinistra Ecologia Libertà (SEL) freilich stehen die Zeichen nach der Wahl zum Europaparlament erneut auf Streit. Diese Formation war 2009 entstanden, als Zusammenschluss der Minderheitsfraktion von Rifondazione Comunista (PRC), Teilen der Grünen und des linken Flügels der Linksdemokraten. Beim Parlamentsvotum 2013 hatte die SEL im Bündnis mit dem Partito Democratico 37 Mandate in der Abgeordnetenkammer und sieben im Senat gewonnen. Als sich die italienischen Sozialdemokraten dann zur Regierungsallianz mit Silvio Berlusconi durchrangen, ging die SEL in die Opposition; jetzt verlangen einige ihrer Abgeordneten eine Wiederannäherung an Renzi. Zwischenzeitlich sind sieben von ihnen aus der SEL-Fraktion ausgetreten. Eine neue Partei planen sie nicht.
Rückzug vom Rückzug
Ungeachtet dessen sieht eine Mehrheit der SEL die Liste Tsipras als Ausgangspunkt eines dauerhaften linken Bündnisses, dem eine Bestandsgarantie zuerkannt werden kann. Gleiches gilt für Rifondazione Comunista und die meisten jener 73 Kandidaten, die auf der Liste dieser Partei für das Europaparlament standen.
Ob dabei allerdings so etwas wie eine italienische Syriza herauskommt, ist fraglich. Auf jeden Fall will Alexis Tsipras wie schon im Wahlkampf auch künftig dem Projekt persönlich helfen und zwischen den italienischen Akteuren vermitteln. Dazu zählen: die drei Europa-Abgeordneten; das „Komitee der intellektuellen Garanten“ und andere prominente Sympathisanten; lokale Komitees der Liste; die beteiligten Parteien, vorzugsweise Rifondazione und SEL.
Das Zusammenspiel dieser Kräfte in einer basisdemokratischen Struktur muss noch eingeübt werden. Eigenmächtiges Agieren der Spitzenbewerberin bei der EU-Wahl, Barbara Spinelli, rief bei den Aktivisten viel Unmut hervor. Vor der Wahl hatte sie versichert, auf ihr Mandat zugunsten eines Nachrückers zu verzichten; danach rückte sie davon ab, weniger aus Karrierismus als wegen dringender Bitten, dem gemeinsamen Projekt auch weiter Namen und Gesicht zu geben: Barbara Spinelli ist die Tochter des Antifaschisten Altiero Spinelli, der 1941 während seiner Inhaftierung das proeuropäische Manifest von Ventotene verfasste. Diese Tradition zu betonen, ist sicher nicht falsch, gerade in Zeiten eines boomenden euroskeptischen Rechtspopulismus. Andererseits kostete Spinellis Rücktritt vom Rücktritt den SEL-Kandidaten das sicher geglaubte Mandat.
Ungleich schwieriger zu bewältigen als die internen Konflikte sind die politischen Herausforderungen, vor denen die Linke und die sozialen Bewegungen stehen. Parallel zum offiziellen römischen EU-Semester soll es ein Semester der Alternativen geben, an dem auch Teile des Partito Democratico und die Gewerkschaften beteiligt sind. Dazu ist an ein Referendum gegen die EU-Austeritätspolitik gedacht. Ziel ist es, den Europäischen Fiskalpakt zu kündigen und die Rücknahme einer Verfassungsreform zu erzwingen, die 2012 in einer Großen Koalition aus PD, Berlusconis rechtem Volk der Freiheit und Mario Montis Drittem Pol beschlossen wurde: Der damals geänderte Artikel 81 erhob einen ausgeglichenen Haushalt zum Verfassungsgebot und verhindert heute staatliche Investitionen, um die Krise zu lindern. Damit ein solches Plebiszit auf den Weg gebracht werden kann, müssen bis Ende September 500.000 Unterschriften gesammelt werden. Vor der EU-Wahl hatte Luciana Castellina, die 84-jährige Mitbegründerin der Zeitung Il Manifesto, die Liste Tsipras als Antidepressivum für die italienische Linke bezeichnet. Noch hält dessen Wirkung an.
Jens Renner schrieb für den Freitag zuletzt über die Reformpolitik Matteo Renzis
Linksparteien und Allianzen seit 1991
Partito della Rifondazione Comunista (PRC) Entstanden 1991, als die einstige Kommunistische Partei Italiens (PCI) in die Partei der Linksdemokraten (PDS) überging. Bis 2006 wurde der PRC durch Fausto Bertinotti geführt und bekannte sich zu den marxistischen Traditionen des PCI. 1996 – 1998 tolerierte der PRC das Mitte-Links-Bündnis L’Ulivo des Premiers Romano Prodi, ohne selbst in die Regierung einzutreten.
Bestes Wahlergebnis: 8,0 % (1996)
Partito dei Comunisti Italiani (PdCI) Sie wurde 1998 gegründet, als der PRC den indirekten Beistand für die Regierung Prodi wegen deren neoli- beraler Politik aufgab. Der PdCI, geführt von Armando Cossutta, ermöglichte den Erhalt der Mitte-Links-Koalition, dem PdCI folgten etwa 20.000 PRC-Mitglieder. Heute ist der PdCI auf eher sozialdemokratische Realpolitik fixiert und nur noch in Bündnissen relevant.
Bestes Wahlergebnis: 3,1 % (2001)
La Sinistra – L’Arcobaleno (Die Linke – der Regenbogen) Nach der Zwischenstufe des Linksbündnisses L’Unione, zu dem sich PRC, PdCI und die Grünen kurzzeitig vereint hatten, kam es vor den Par- lamentswahlen 2008 zu einer weiteren Neuformierung in Gestalt der Regenbogen-Koalition, die aber an der Vier-Prozent-Hürde scheiterte und 2009 in die Lista Anti capitalista überging, die ebenfalls den erhofften Erfolg schuldig blieb.
Bestes Wahlergebnis: 3,1 % (2008)
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