Salvini will alles

Italien Der Ausgang der Regierungskrise ist offen, eine alternative Mehrheit ohne die Lega möglich
Ausgabe 33/2019
Salvini fordert nicht weniger als ein Ermächtigungsgesetz. Das ist Rhetorik im Stil von Mussolini
Salvini fordert nicht weniger als ein Ermächtigungsgesetz. Das ist Rhetorik im Stil von Mussolini

Foto: Italy Photo Press/Imago Images

"Prima gli italiani“ – die Italiener zuerst: Matteo Salvinis nationalistischer Slogan rahmt auch die von ihm ausgelöste Regierungskrise. In der Stunde der Entscheidung appelliert er an das Volk: „Jetzt frage ich die Italiener, ob sie mir alle Vollmachten geben, um ohne Verzögerung und ohne Fußfesseln das zu tun, was wir versprochen haben.“ Den Auftrag sollen sie per Stimmzettel erteilen – eine Parlamentswahl als Plebiszit über den selbst ernannten Führer, der nicht weniger fordert als ein Ermächtigungsgesetz: Das ist, wie Kritiker zu Recht anmerken, Rhetorik im Stil Benito Mussolinis. Aber Salvini muss zunächst einmal damit leben, dass sich Premier Conte nicht in dieser Woche einem Misstrauensvotum stellen muss. Der Senat hat stattdessen entschieden, dass der Regierungschef Anfang nächster Woche erst einmal Bericht erstattet über die Regierungskrise.

Salvinis Entscheidung, die Koalitionsregierung der Lega mit der Fünf-Sterne-Bewegung (MoVimento Cinque Stelle/M5S) nach nur 14 Monaten für gescheitert zu erklären, war längst erwartet worden. Seit den Wahlen zum EU-Parlament Ende Mai hat sich das Kräfteverhältnis zwischen den Koalitionären gedreht: Während die Lega mit 34 Prozent ihren Stimmenanteil gegenüber dem Parlamentsvotum im März 2018 fast verdoppeln konnte, schrumpften die Cinque Stelle von 32 auf 17 Prozent. Aktuelle Umfragen sehen die Lega gar beim Wert 36 und mehr. Mit den Stimmen für die neofaschistischen Fratelli d’Italia könnte das für eine Mehrheit der Mandate in Abgeordnetenkammer und Senat reichen. Salvini wäre neuer Regierungschef.

Um die Regierungskrise auszulösen, reichte ihm ein Vorwand: die – lange bekannten – gegensätzlichen Positionen der beiden Regierungsparteien zum Bau der umstrittenen Hochgeschwindigkeitstrasse TAV von Turin nach Lyon. Sie wird seit jeher von der Lega unterstützt, von den Fünf Sternen aber abgelehnt. Letztere brachten – scheinbar besonders trickreich – einen Antrag gegen die Route ins Parlament ein, der die Regierung zu nichts verpflichtete, sondern nur verloren gegangene Sympathien bei der breiten No-TAV-Bewegung zurückerobern sollte, ohne Salvini zu verärgern – beides misslang. Obwohl dieser Antrag, wie beabsichtigt, im Parlament keine Mehrheit bekam, tobte Salvini, er könne nicht länger mit einer Partei zusammenarbeiten, die immerzu alles blockiere. Anders die Cinque Stelle: Sie hätten liebend gern weitergemacht, müssten sie doch bei Neuwahlen mit erheblichem Stimmenverlust rechnen. Zudem dürften die jetzigen Mandatsträger laut M5S-Statut nicht erneut kandidieren.

Das kann dauern

Bisher scheint der Ausgang dieser Krise offen zu sein. Einige Szenarien sind möglich, theoretisch sogar eine alternative Mehrheit aus Fünf Sternen und der größten Oppositionspartei, dem Partito Democratico (PD). Wahrscheinlicher ist die Bildung einer von Staatspräsident Sergio Mattarella eingesetzten „institutionellen“ Übergangsregierung, deren Auftrag es wäre, bald Neuwahlen zu organisieren. Diese könnten frühestens Ende Oktober stattfinden.

Zunächst einmal aber wird nun das Parlament über einen Antrag des PD abzustimmen haben, Salvini das Vertrauen zu entziehen, welches wegen mutmaßlich illegaler Russlandkontakte erschüttert sei. Mit einer Amtsenthebung könnte Salvini allerdings gut leben: Er hätte dann, wie er süffisant anmerkte, noch mehr Zeit für den Wahlkampf und trüge keine Verantwortung für das Haushaltsgesetz, das bis Ende Oktober der EU-Kommission zur strengen Prüfung vorgelegt werden muss. Die nötigen 17 Milliarden zur Finanzierung einer von der Lega versprochenen „Flat Tax“ – nur noch 15 Prozent Einkommenssteuer bis zu einem Familien-Jahreseinkommen von 55.000 Euro – werden darin nicht enthalten sein.

Materiell „gelohnt“ hat es sich für Lega-Wähler bislang ohnehin nicht. Umso alarmierender sind die steigenden Zustimmungswerte für die Partei und deren Galionsfigur, auch im Zusammenhang mit der Sea-Watch-3-Affäre und Salvinis skrupellosen Tiraden gegen Carola Rackete. Inzwischen ist es das zum Gesetz erhobene Sicherheitsdekret, das aufgehetzte Massen begeistert. Es sieht Haft- und Geldstrafen bis zu einer Million Euro für all jene vor, die Menschen auf hoher See retten und nach Italien bringen, sowie die Beschlagnahmung dabei eingesetzter Schiffe. Dass derartige Repressionen weder vom internationalen Seerecht noch von der italienischen Verfassung gedeckt sind, ist den Regierenden in Rom zweifellos bewusst. Ganz offensichtlich sollen die angedrohten Maßnahmen dazu dienen, Seenotretter abzuschrecken und eine rechte Klientel zu bedienen.

Gegen die Lega und die von ihr gezielt angeheizten faschistoiden Massenstimmungen wächst allerdings der Widerstand. Beppe Grillo, Gründer der Cinque Stelle, ruft zum Kampf gegen die „Barbaren“. Von links wie aus dem PD kommen Aufrufe zu einer Art antifaschistischer Einheitsfront, um das Schlimmste zu verhindern. Wenn es dafür nicht schon zu spät ist. Der mittlerweile 83-jährige Publizist Giampalo Pansa, jahrzehntelang Kolumnist einflussreicher Blätter wie La Repubblica, L’Espresso oder Panorama, ist pessimistisch: „Wir sind gerade erst am Anfang einer üblen Geschichte, die Jahre dauern wird.“

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