Sand statt Zement

Italien Nach dem Beben soll Amatrice wiederauferstehen. Die üblichen Verdächtigen reiben sich schon die Hände
Ausgabe 35/2016
Inferno Amatrice
Inferno Amatrice

Foto: Carl Court/Getty Images

An dieser Frage schieden sich schon immer die Geister. Nach dem Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755 fiel François-Marie Arouet, genannt Voltaire, endgültig vom christlichen Glauben ab: „Wie einen Gott sich denken, der, die Güte selbst, / den Kindern, die er liebt, die Gaben spendet, / und doch mit vollen Händen Übel auf sie gießt?“, schrieb er in seinem Gedicht über das Erdbeben. Mindestens 30.000 Menschen waren dabei umgekommen. Durch Gott? Das Schicksal? Die Natur? In einem Brief an Voltaire erhob Jean-Jacques Rousseau Einspruch gegen diese Deutung: „Gestehen Sie mir, dass nicht die Natur zwanzigtausend Häuser von sechs bis sieben Stockwerken zusammengebaut hatte! Und dass, wenn die Einwohner dieser großen Stadt gleichmäßiger zerstreut und leichter beherbergt gewesen wären, so würde die Verheerung weit geringer, und vielleicht gar nicht geschehen sein.“

Menetekel „Irpiniagate“

Bei den Debatten über die Ursachen des Erdbebens von Amatrice und Umgebung, bei dem am 24. August mindestens 291 Menschen ihr Leben verloren, geht es im Kern um die gleiche Frage. Die Experten sind sich sicher: Nicht das Beben selbst, aber seine katastrophalen Folgen sind von Menschen zu verantworten. Von „Korruption und Schlamperei“ spricht Carlo Meletti vom Institut für Geophysik und Vulkanologie (INGV). So sei die Zerstörung des Krankenhauses und der erst 2012 mit modernsten Techniken renovierten Schule von Amatrice nur durch Pfusch zu erklären, etwa die Verwendung von zu viel Sand und zu wenig Zement, wodurch der Beton brüchig wird. Andere von Erdbeben geplagte Länder – genannt werden immer wieder Chile, Japan oder die Vereinigten Staaten – hätten aus vergangenen Katastrophen längst Lehren gezogen. Dort, sind sich die Fachleute sicher, hätte ein Beben von der gleichen Stärke wie in Amatrice (6,2 auf der Richterskala) sehr viel weniger Schaden angerichtet. Auch in Italien hätte man es längst besser wissen können. Im Oktober 1980 starben bei einem Erdbeben in der süditalienischen Bergregion Irpinia mehr als 2.900 Menschen. Im Oktober 2002 stürzte in Sangiuliano (Apulien) ein Schulgebäude ein; 27 Grundschüler und ihre Lehrerin starben – obwohl das Haus das relativ leichte Beben der Stärke 5,4 eigentlich hätte überstehen müssen, wenn es denn solide gebaut worden wäre. Im April 2009 kamen in den Abruzzen (Regionalhauptstadt: L’Aquila) fast 300 Menschen ums Leben. Weitere Beben waren – und sind – nur eine Frage der Zeit: In Süditalien muss man im Schnitt alle zehn Jahre mit einer Erderschütterung der Stärke sechs und mehr rechnen – wegen der tektonischen Verschiebungen, die von den Geologen längst erforscht sind. Von Süden drückt die Afrikanische Platte gegen die Eurasische Platte, und Italien liegt jeweils etwa zur Hälfte auf der einen und auf der anderen. Pro Jahr verschiebt sich die Afrikanische Platte einige Millimeter in nördlicher Richtung. Dadurch wird entlang der Plattengrenze Spannung aufgebaut, die sich in einer ruckartigen Verschiebung der Gesteinsplatten entladen kann – ein Erdbeben ist die Folge.

Nach Irpinia wurden zwar, mit der landesüblichen mehrjährigen Verspätung, schärfere Bauvorschriften erlassen. Die wesentliche politische Hinterlassenschaft der Katastrophe aber war „Irpiniagate“, der Skandal um die Veruntreuung der reichlich fließenden Hilfsgelder. Nur ein Viertel davon erreichte die Angehörigen der Todesopfer, die 10.000 Verletzten und die mehr als 300.000 Obdachlosen. Den Löwenanteil kassierten korrupte Politiker und Verwaltungsbeamte, Bauunternehmer und Mafiosi. Gleichwohl behauptete Ciriaco De Mita, Generalsekretär der Democrazia Cristiana (DC) von 1982 bis 1989, der seinen Wahlkreis in der betroffenen Region hatte, noch Jahre später, „Irpiniagate“ sei eine Erfindung der Medien und der linken Opposition. Die wahren Schurken säßen allesamt in Neapel: einige schwarze Schafe innerhalb seiner eigenen Partei, der Democrazia Cristiana, vor allem aber die dortige Camorra. Sie seien schuld, dass der Wiederaufbau in der Region nur schleppend vorankam. Er wurde erst 20 Jahre nach dem Erdbeben abgeschlossen.

Das sollte sich nach dem Inferno von L’Aquila nicht wiederholen. Premierminister Silvio Berlusconi versprach 2009 umgehend Abhilfe, verlegte den G8-Gipfel medienwirksam in die getroffene Region und versprach, die Stadt besser, moderner, schöner als zuvor wieder aufzubauen – als New Town! Die Ergebnisse dieser Showpolitik können am Rande von L’Aquila besichtigt werden.

Kontrolle der Kontrolleure

Die heute verantwortlichen Politiker, allen voran Matteo Renzi, versprechen, aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt zu haben. Anders als Berlusconi wollen sie auf die Wünsche der betroffenen Bevölkerung hören. Die aber will den Wiederaufbau ihrer Dörfer an gleicher Stelle. Möglich ist das, sagt der Ingenieur und Architekt Mario Ciammiti, der seit Jahren in L’Aquila arbeitet. Auch alte Häuser könnten erdbebensicher gemacht werden. Geschätzte Kosten: 300 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche, viel Geld für private Hauseigentümer. Folglich wären staatliche Hilfen im großen Umfang notwendig. Aufzubringen wäre das Geld, wenn der Staat auf teure und ökologisch schädliche Großprojekte verzichtet: die Hochgeschwindigkeitstrasse Turin-Lyon, das ILVA-Stahlwerk in Taranto oder die immer wieder gern ins Spiel gebrachte Brücke zwischen dem Festland und Sizilien. Für eine solche Umverteilung großen Stils fehlt freilich der politische Wille.

In Amatrice und seinem Umland soll der Wiederaufbau zügig beginnen. Die politischen Begleiter der Bauindustrie reiben sich in aller Öffentlichkeit die Hände – das zeigt der Dialog zwischen dem Fernsehmoderator Bruno Vespa und Graziano Delrio (Partito Democratico), Minister für Infrastruktur und Verkehr, in der Talkshow Porta a Porta auf Rai1. Auf Vespas Stichwort von dem zu erwartenden Aufschwung des Baugewerbes antwortete der Minister: „Heute schon ist L’Aquila die größte Baustelle Europas, und auch die Emilia (dort bebte die Erde im Mai 2012) ist eine riesige, noch wachsende Baustelle, das steigert das Bruttoinlandsprodukt.“

Die Katastrophe als Chance – dieser Zynismus kam in der Öffentlichkeit nicht gut an. Groß sind schon jetzt das Misstrauen und die Skepsis gegenüber den Profiteuren eines versprochenen Wiederaufbaus. Ohne strenge Kontrolle – nicht zuletzt ohne Kontrolle der Kontrolleure – ist zu befürchten, dass in Amatrice alles läuft, wie man es seit jeher gewohnt ist

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