Schon wer Brotkrümel fallen lässt, wird bestraft

Italien Wie in Melfi ein anachronistisches Betriebsregime des FIAT-Konzerns eine neue und erfolgreiche Streikbewegung ausgelöst hat

Der Name des Städtchens, 150 Kilometer östlich von Neapel in der Provinz Potenza gelegen, war bis vor kurzem auch in Italien weitgehend unbekannt. Das hat sich in den vergangenen Wochen schlagartig geändert. Die Linkspartei Rifondazione Comunista (RC) bedruckte jüngst ihre Plakate zu den parallel stattfindenden EU-Parlaments- und Kommunalwahlen mit dem Slogan: "Melfi zeigt: Es lohnt sich zu kämpfen!" - Auch in Mailand oder Turin, den Zentren der italienischen Gewerkschaftsbewegung, spricht man voller Hochachtung von der Belegschaft des FIAT-Werkes im tiefen Süden, die entschlossen und militant einen Großteil ihrer Forderungen durchgesetzt hat.

Zermürbende Nachtschichten

Melfi zählt etwa 15.000 Einwohner; mehr als 5.000 Menschen, darunter viele Pendler aus dem Umland, arbeiten bei FIAT, wo die Modelle Punto und Lancia Y montiert sowie Bleche und Komponenten für andere Fabriken produziert werden. Natürlich ließ auch hier die Krise des Konzerns die Sorge um den Erhalt der Arbeitsplätze wachsen. Doch hat die Belegschaft darauf nicht mit "freiwilligem" Verzicht zum Wohle des Unternehmens reagiert, sondern auf einer Vollversammlung im April ihrerseits Forderungen beschlossen: Abschaffung der zwölf aufeinander folgenden Nachtschichten ("doppia battuta"); Angleichung des Lohns an den Standard der anderen Standorte; Rücknahme von Disziplinar- und Strafmaßnahmen. Gleichzeitig wurde nicht nur ein Streik beschlossen, sondern auch die Blockade des Betriebes, um den Abtransport von Einzelteilen zu verhindern.

Die Absperrung aller fünf Zufahrten begann am 19. April und wurde erst zehn Tage später beendet. Zu der Courage, mit der in Melfi gekämpft wurde, haben nicht zuletzt extreme Arbeitsbedingungen beigetragen: die zermürbende Zahl von Nachtschichten, die verkürzten Pausen, die um bis zu drei Stunden verlängerten Arbeitstage - ein geradezu anachronistisches Fabrik-Regime: Allein im vergangenen Jahr gab es 2.500 Disziplinarmaßnahmen bis hin zu Entlassungen; schon wer Brotkrümel fallen ließ oder sich aus Sicht seiner Vorgesetzten zu lange auf der Toilette aufhielt, musste mit Bestrafung rechnen. Auch Arbeitsunfälle galten als Verstoß gegen die Hausordnung des "glitzernden Gefängnisses", wie der Gewerkschafter Giorgio Cremaschi die Verhältnisse nennt.

Das extrem harte Disziplinierungssystem hat wesentlich dazu beigetragen, dass aus dem Werk in Melfi das produktivste des gesamten Konzerns wurde. Eine einheitliche Betriebskleidung - auch für leitende Angestellten - sollte zum vollen Einsatz für die "gemeinsame Sache" motivieren. Derzeit liegt das erst 1994 in Betrieb genommene Werk in der Rangliste der effizientesten europäischen Automobilfabriken auf Platz vier hinter Nissan (Sunderland), Toyota (Burnaston, beide in Großbritannien) und Ford in Saarlouis.

Die Konzernspitze betrachtet Melfi als Vorzeigebetrieb und Experimentierfeld zugleich. Würde die Belegschaft die hier eingeführten extremen Arbeitsbedingungen widerstandslos hinnehmen, wären über kurz oder lang auch die Arbeiter der anderen Standorte damit konfrontiert: Was in Melfi geht, muss auch anderswo möglich sein, so das unternehmerische Kalkül.

Durch den Arbeitskampf ist der Standort nun auf ganz andere Weise zum Exempel geworden, als vom Management geplant. An den Umgang mit zahnlosen Funktionären der Gewerkschaften FIM, UILM und FISMIC gewöhnt, wurde die Beharrlichkeit der Arbeiter völlig unterschätzt. Diese haben - unterstützt von der FIOM (den Metallern im Gewerkschaftsbund CGIL) und den Basiskomitees (COBAS) - allen Spaltungsversuchen widerstanden und zehn Tage lang den Betrieb gelähmt.

Die Unternehmensleitung reagierte mit Drohanrufen bei den Familien der Streikenden, schließlich mit dem Ruf nach der Polizei. Die erschien am 26. April in voller Kampfausrüstung und versuchte, die Sperren zu durchbrechen, um zwei Busse mit Streikbrechern in die Fabrik zu schleusen. Nach dieser massiven Intervention der Staatsgewalt war auch dem Wohlmeinendsten klar, wie sehr die nach außen hin um ein neutrales Image bemühte Regierung auf die Seite des Kapitals drängte. Nachdem Staatssekretär Sacconi den Polizeieinsatz schon vorab als Maßnahme gerechtfertigt hatte, mit der das "Recht auf Arbeit" gesichert werde, gab sich Innenminister Pisanu drakonisch: "Wir sind bereit, es wieder zu tun".

Die von der Regierung erhoffte demoralisierende Wirkung des Polizeiaufmarsches blieb indes aus. Stattdessen sammelten die Kollegen von FIAT in Termini Imerese (Sizilien) 25.000 Euro für den Kampffonds, in Melfi selbst gab es zwei Demonstrationen mit 10.000 beziehungsweise 15.000 Teilnehmern. Auch an anderen Orten soldarisierte man sich, unter anderem durch einen vierstündigen Streik in sämtlichen FIAT-Werken. Auch linksdemokratische und kommunistische Abgeordnete, militante Disobbedienti ("die Ungehorsamen") sowie der Sekretär von Rifondazione Comunista, Fausto Bertinotti, kamen nach Melfi. Spaltungsversuche der "gemäßigten" Gewerkschaften blieben hingegen erfolglos - ihre separate Übereinkunft mit dem Unternehmen interessierte kaum jemanden, und an einer von ihnen organisierten Demonstration für einen Abbruch der Blockade beteiligten sich nicht mehr als 100 Menschen.

Wer arbeitet, soll Opfer bringen

In eine heikle Phase geriet der Kampf erst, als die Unternehmensleitung sich strikt weigerte, mit der FIOM zu verhandeln, solange der Betrieb belagert bliebe. Nach hitziger Debatte auf einer Betriebsversammlung wurde schließlich beschlossen, die Fabriktore zu räumen - ein Wagnis, das sich auszahlte. Denn in den Verhandlungen sah sich FIAT gezwungen, den Forderungen der Belegschaft nachzugeben: Die Zahl aufeinander folgender Nachtschichten wird reduziert; die Arbeiter erhalten, über mehrere Stufen bis Januar 2006, eine Lohnerhöhung von 105 Euro, sogenannte "Disziplinarmaßnahmen" werden überprüft.

Jenseits aller Besonderheiten zeigt das Exempel Melfi einmal mehr die Anfälligkeit der modernen Just-in-time-Produktion: Sehr schnell stockte durch die Blockaden auch in anderen Werken des Konzerns die Fertigung, weil der Nachschub an Einzelteilen ausblieb. In Melfi selbst wurden durch den Streik 38.000 Autos weniger gebaut; der streikbedingte operative Verlust des ohnehin hochverschuldeten Konzerns wird auf 50 Millionen Euro beziffert. Den will FIAT nun bis Ende des Jahres wieder hereinholen - was ohne verschärfte Arbeitshetze anderenorts nicht gelingen kann und damit neue Arbeitskämpfe heraufbeschwört. So dürfte auch die Geduld derjenigen strapaziert werden, die Unternehmern und "moderaten" Gewerkschaften zu glauben pflegen, wenn es heißt: Wer arbeitet, muss Opfer bringen, um die Wettbewerbsfähigkeit des "eigenen" Unternehmens zu stärken und seinen Arbeitsplatz zu sichern.

Auf die Maßlosigkeit der Bosse ist allemal Verlass, und weil das so ist, könnte "Melfi" auch anderswo Schule machen, nicht nur in Italien. Wie Arbeitskämpfe durchaus in die Politik durchschlagen können, zeigen die Wahlergebnisse vom 13. Juni. In der Provinz Potenza haben die Regierungsparteien - allen voran Berlusconis Forza Italia - deutlich verloren. Dagegen konnte Rifondazione Comunista, die sich am entschiedensten mit den Streikenden solidarisierte, ihren Stimmenanteil mit acht Prozent mehr als verdoppeln.


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