Die Antwort ist nicht leicht, doch man kann es sich auch einfach machen: "Dass die eigene persönliche Lage bei vielen die Aussichtslosigkeit, die Perspektivlosigkeit in einem ganzen Bündel von Motiven, eine Partei zu wählen ein Rolle spielt, das kann man doch nicht bestreiten", sagte der Unions-Fraktionsvize Wolfgang Bosbach im Februar bei Sabine Christiansen zu den Wahlerfolgen der NPD in Sachsen. Dem stimmten auch die restlichen Gesprächsteilnehmer in der Runde mehr oder minder zu, alle waren sich einer Meinung, oder aber: alle waren auch einigermaßen ratlos.
Der Rechtsextremismus steht auf der Diskussionsagenda, und es wurde in der letzten Zeit fleißig und öffentlich nach "Erklärungen" für die Entwicklung rechtsextremer Gesinnung gesucht, bis hin zur Äußerung Edmund Stoibers, der das "ökonomische Versagen der Regierung Schröder" für das Erstarken der Rechtsextremen dingfest machen wollte. Ist da was dran? Selbst die Wissenschaft tut sich bisweilen schwer, im Grunde aber existieren vier Ansätze, um das Phänomen Rechtsextremismus zu erklären.
Ein erster ist es, Rechtsextremismus als Folge von Persönlichkeitsmerkmalen, meist im Sinne eines "autoritären Charakters" durch autoritäre Erziehungen, zu deuten. Insbesondere die Berkeley Gruppe der Frankfurter Schule um Theodor W. Adorno war es, die von der Existenz einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur ausging, die sich Stärkeren unterwirft und Schwächeren gegenüber Macht demonstriert. Das klingt einleuchtend, doch empirisch ließ sich dieser "autoritäre Charakter" kaum nachweisen. Auch mag das Modell heute angesichts zunehmender Demokratisierung und Flexibilisierung von Erziehungsstilen etwas antiquiert klingen. Der Ansatz wurde dennoch immer wieder für den Rechtsschwenk im Osten diskutiert, da hier ein "verordneter Antifaschismus" von oben eben genau sein Gegenteil, nämlich autoritäre Charaktere produziert und hinterlassen habe. Der Autoritarismus-Ansatz ist keineswegs obsolet geworden, autoritäre Strukturen begünstigen Rechtsextremismus durchaus, er reicht aber als alleiniges Modell nicht aus.
Eine zweite Erklärung für die Genese des Rechtsextremismus konzentrierte sich auf Ungleichgewichtszustände und untersuchte die Zugehörigkeit von Individuen zu Kollektiven, die von wirtschaftlichen und sozialen Faktoren beeinflusst seien. Das wurde unter dem von Ted R. Gurr geprägten Begriff der "relativen Deprivation" diskutiert. "Relative Deprivation" meint einen Zustand der Enttäuschung und Unzufriedenheit: was man hat, das will man vielleicht nicht unbedingt, aber was man nicht hat, möchte man womöglich haben und glaubt auch, dass es einem zusteht. Die empfundene Benachteiligung, die wirtschaftlicher, sozialer, kultureller oder politischer Natur sein kann, könne das Individuum schließlich dazu veranlassen, sich zum Kollektiv gegen die wahrgenommenen Verursacher der Unzufriedenheit zusammenzuschließen.
Aber auch diese These ließ sich bislang empirisch nicht so bestätigen, dass sie als alleinige Erklärung für rechtsextreme Gesinnung gelten könnte. Genauso wenig wie ein dritter Ansatz, der Rechtsextremismus als Folge des sozialen Wandels und der Loslösung von Individuen aus gesellschaftlichen Bindungen deutet: im Becken Rechtsextremismus sammelten sich solche Menschen, die strukturell entwurzelt und darum orientierungslos seien. Der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer hat diese Diskussion entfacht, seine bekannte These lautet: Es sind die Desintegrierten, die zu Rechtsextremismus neigen.
"Völliger Quatsch", entgegneten Heitmeyers Kritiker. Schließlich stünden die Rechtsextremen oftmals in "Lohn und Brot", seien keine "Desintegrierten", was richtig ist. Dennoch hat Heitmeyer in dem Punkt Recht, dass Rechtsextremismus in einer Gesellschaft umso mehr fruchtet, in der Orientierungslosigkeit herrscht und zugleich, wie er später anführte, eine "instrumentalistische Arbeitsorientierung". Es müssen dann keineswegs "die" Desintegrierten oder auch "die" Deprivierten sein, die in den braunen Sumpf abgleiten. Rechtsextremisten können gar durch ihre Einbindung in ein Kollektiv an Selbstbewusstsein und Dominanz gewinnen, wie sich das in Regionen wie etwa der Sächsischen Schweiz bisweilen demonstrativ zeigt. Aber dieses Kollektiv ist eben vermehrt eines der strukturell Benachteiligten, aus denen rechte Kräfte selbstbewusst hervortreten.
Die Berliner Psychologieprofessorin Birgit Rommelspacher merkt an, dass eine "forcierte Identifikation mit den Werten Leistung, Wohlstand, Karriere und Geld" Rassismus vorantreibt. Es sei der Druck, den sozialen Status "zu halten oder aufzusteigen". Rechtsextremismus ist darum durchaus ein ganz "normaler" pathologischer Zustand, eine Reaktion "auf die Industrialisierung" und Modernisierung, wie es bereits Erwin Scheuch und Hans D. Klingemann vor Jahrzehnten unterstrichen haben. Er ist durchaus auch bedingt durch den sozialen Wandel, der ein Klima hin zu individueller Leistung fördert, selbst wenn der Zusammenhang zwischen Modernisierung, Anomie und rigidem Denken nicht eindeutig ist. Das Streben nach Leistung ist ein Wesenszug westlicher Demokratie, auch einer der politischen Kultur. Rechtsextremismus ist also weder ein ostdeutsches, noch ein nur deutsches Phänomen.
Ein vierter Erklärungsansatz bezieht sich auf die "politische Kultur". Ihm ist meines Erachtens bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Unter politischer Kultur wird gängig ein Staats(bürger)bewusstsein verstanden, das durch eine spezifische Geschichte tagespolitische, ökonomische und soziale Entwicklungsprozesse geprägt ist. Und da wird es plötzlich für hiesige politische Kräfte ungemütlich, denn hier lässt sich der Miesepeter nicht wahlkampfstrategisch der anderen Partei zuschieben. Das Vertrauen in die Parteien ist auf dem Tiefpunkt, auch die CDU macht da keine Ausnahme, bietet zu Hartz IV keine Alternative, kann sich kaum in Bequemlichkeit wiegen. Gerade die Ostdeutschen fühlen sich heute machtlos und entwertet, als Menschen zweiter Klasse. Jeder zweite Ostdeutsche (im Gegensatz zu jedem fünften Westdeutschen) hält die Demokratie in Deutschland nicht für die beste Staatsform, ein Viertel meint, es gebe eine bessere, so das Ergebnis des Datenreports 2004.
Diesbezüglich wurde gerade für die neuen Länder immer wieder ein "defizitäres Demokratieverständnis" diskutiert - von Bernd Wagner vom Zentrum Demokratische Kultur (ZDK) Berlin bis zum Soziologen Rainer M. Lepsius. Auch wenn diese Annahme nicht gänzlich von der Hand zu weisen ist, zeigte sich in Umfragen dennoch immer wieder, dass die Ostdeutschen die Demokratie weniger an sich ablehnen, sondern mehr die implementierte demokratische Struktur der (west)deutschen Demokratie in Form ihrer Darstellung. Die Ostdeutschen fordern mehr eine Konsens- anstelle einer Konkurrenzdemokratie.
Gerade die CDU/CSU formt schon lange eine konsensorientierte politische Kultur durch Slogans wie "Kinder statt Inder", "Deutschland muss in Kreuzberg wieder erkennbar werden" oder mit dem Begriff Leitkultur, für den sich auch Rechtsextreme erwärmen können. Über die Hälfte der Menschen mit rechtsextremen Weltbildern Westdeutschlands wählte schon vor Jahrzehnten die CDU, wie aus der Sinus-Studie der 80er Jahre hervorging. Und auch neuere Analysen des Wahlforschers Jürgen W. Falter bestätigen Ähnliches: In den Wahljahren 1994 und 1998 gaben 54 Prozent der Personen mit sieben oder mehr Positivantworten auf der Rechtsextremismusskala der CDU ihre Stimme. Das klingt unangenehm für die Klagenden aus der zweiten Reihe, und die Schuldverdrängungen und -zuschreibungen sind darum nicht nur bedauerlich, sie sind peinlich.
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