Die Stadt ist kein Ort für Architektur-Genießer. Fachwerk und mittelalterliche Versatzstücke auf dem Markt in der Mitte - ein Plattenviertel am Rand. Zur Karnevalszeit heißt Neustadt an der Orla "Duhlendorf" und setzt mindestens drei Tage mit dem Alltag aus. Dann wird scharf geschossen: Mit Konfetti, Papierschlange, Zuckerwerk, herben Sprüchen - und die Narren okkupieren mit ihrem Umzug die Hauptstraße, die noch immer nach Ernst Thälmann benannt ist. Hat sich die Prozession des Frohsinns erschöpft, drängt wieder anderes ins Blickfeld. Hinter mancher Schaufensterscheibe gähnt Leere, manches Haus steht verlassen, was so außergewöhnlich nicht ist. Im Orla-Tal hat sich die alte Industrie längst der Verschwindsucht ergeben, die ne
neue nimmt ihren Platz draußen vor der Stadt, aber wenig Leute. Bei 18 bis 19 Prozent liegt die Arbeitslosigkeit in der Kommune. Nichts Besonderes für diese Gegend im Thüringer Land.Mit dem vergangenen Jahr aber mussten nicht nur ein paar Geschäfte aufgeben, im Haus Nummer drei der Ernst-Thälmann-Straße traf es im Frühjahr auch die "Projektwerkstatt" - ein Treff von Jugendlichen, die alternativ zu nennen absolut übertrieben schien. Die "Werkstatt" erinnerte an Zeiten, da es in Neustadt Punks gab und auch ein besetztes Haus. Zuletzt trafen sich dort Schüler aus dem Gymnasium, die mit Schützenverein, Skatklub und "Duhlendorf" wenig im Sinn hatten. Es gab afrikanische Abende, Lesungen oder HipHop, bis immer wieder nachts die Scheiben krachten und schließlich der ganze Innenraum verwüstet war. Zerstört von Leuten, denen Afrika, Lyrik oder Drumbeats mutmaßlich völlig egal sind, nicht aber die Straße, auf der sich zeigen lässt, wem die Stadt gehört: Kopfhaarlosen Knaben, die sich mit Stiefeln, Jacken und Fäusten zu Männern aufpolstern.Am possierlich aufgehübschten Markt von Neustadt liegt Henrys Pub. Als die Projektwerkstatt zu Bruch ging, konnte die "Schwarze Garde" dort trinken und schreien, singen und feiern - bis alles in Scherben fiel. "Nach jeder Attacke ging es im Pub hoch her", erzählt Roman*, der von ein paar "Faschos" - wie er sie nennt - überfallen und mit einer Zaunlatte niedergeschlagen wurde. Ein anderes Mal hätten drei Skins eine 13-Jährige "in die Mangel genommen", bis der Arm gebrochen und ein Auge blau war.Was dadurch ausgelöst werde, das sei vor allem lähmende Angst, sagen alle Betroffenen übereinstimmend - Angst, nach einer Anzeige erst recht mit Angriffen rechnen zu müssen. Angst, hilflos zu erscheinen, wenn man die Obrigkeit ruft. Angst, nicht mehr Ernst genommen zu werden. Ohnehin hatte die Polizei "keine Häufung rechter Gewalt" erkennen können.Inzwischen hängt an der Tür von Henrys Pub ein Schild: "Kein Einlass in Springerstiefeln und ähnlicher Kleidung". Der Besitzer ist einer, den man in Neustadt "Investor" nennt, weil er aus alten Buden neue Quartiere und neue Gewinne macht. Roman kann nicht glauben, dass der auf einmal mit der Gesinnung seiner Gäste Probleme haben sollte: "Es geht nur um die Springerstiefel." Vielleicht hängt das Schild, weil Neustadt in einem zweifelhaften Ruf steht. Blätter wie Die Woche, die FAZ, auch das Freie Wort aus Suhl haben die Stadt großzügig zu einer der Regionen im Osten erklärt, in denen junge Schläger und alte Männer ihre "national befreiten Zonen" etablieren und eine Lufthoheit aus Dumpfheit und Hass gewinnen wollen.In der Aula des Gymnasiums hat der Mut, diesem völkischen Mief zu begegnen, auf zwei Dutzend Stühlen Platz. Die "Initiative für ein gewaltfreies Miteinander in Neustadt/Orla" - kurz "N.O." - trifft sich mit dem Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse.Philipp und Carolin und noch zwei hatten "N.O." gegründet, weil sie nicht mehr weglaufen, weil sie Gehör finden wollten bei Bürgermeister, Parteien, Polizei und weil sonst keiner etwas unternimmt. "Im Stadtrat wurde erst einmal gemauert", erinnert sich Philipp. "Als wir dort mit ÂN.O. ankamen, war die erste Reaktion Schweigen, die zweite: Rückkehr zum Tagesordnungspunkt ÂBlumenkästen für die Ernst-Thälmann-Straße ..." Der Aufstand des Anstands drohte an der Ignoranz der Zuständigen zu scheitern. Doch Philipp, Carolin, Dany und die anderen blieben zäh, hörten Vorwürfe wie "Nestbeschmutzer", "Standort-Zerstörer", "nützliche Idioten" und zwangen die Parteien, den Stadtrat, die Gewerbetreibenden und die Vereine schließlich, "N.O." zu respektieren. Am 18. November 2000 kam eine Menschenkette rund um den Markt zustande. "Seitdem gehört dieser Platz nicht mehr den Rechten", sagt Philipp. Und Wolfgang Thierse staunt: "So einfach geht das?" - Natürlich nicht. "Im Winter macht das Biertrinken auf dem Markt halt wenig Spaß", meint Tobias. Was im Frühjahr passieren werde, wisse niemand. "Wir haben mit den Neustädter Skins zu diskutieren versucht, einmal, zweimal, das hat aber nicht viel gebracht." Weil die einen nicht von Hitlergruß und "unterdrücktem Volk" lassen wollen, und die anderen keine Lust haben, beim gemeinsamen Fußballspiel die Schläge, die Scherben, die ewig krauchende Angst zu vergessen. Weil es auch mühsam sein kann, als anständig Aufständischer Toleranz und Anstand zu wahren.Bei diesem Punkt liegen Welten zwischen Thierses Vorstellungen, mit Spiel, Spaß und Reden den "Rattenfängern" ihren Nachwuchs zu entziehen, und einem Satz, wie ihn die 16-jährige Dany ausspricht: "Ich verstehe absolut nicht, warum solche Typen frei rumlaufen dürfen." Thierse wendet ein, Repression und schnelle Verurteilungen könnten das Problem nicht lösen: "Das dauert sehr viel länger." - Als wenn sie das nicht wüssten.Ihre Vorhaben für das Frühjahr klingen bescheiden - für ihren kleinen Trupp mit nichts als der wohlfeilen verbalen Unterstützung "aller Demokraten der Stadt" sind sie groß: Sie wollen Hilfesuchenden in den Nachbarstädten zeigen, wie man eine ähnliche Initiative angeht, ein HipHop-Konzert nach Neustadt holen und Iris Berben zu einer Lesung. Eine Ausstellung soll entstehen. Sie wollen die Stadt nicht in den gnädigen Schlaf der Gleichgültigkeit zurückfallen lassen. Auch wenn mancher im Rathaus sein Misstrauen in den Satz kleidet, man verfüge leider nicht über die Mittel, das "wichtige Anliegen in greifbare Projekte umzusetzen". So zehrt der Einsatz für "N.O." und ein gewaltfreies Miteinander an den Kräften.In der vollen Stadthalle sucht der Bundestagspräsident vom Podium herab eine Antwort auf die Frage, wie viel sich Menschen an Kraft zumuten müssen, damit aus dem Auf- ein Zustand der Anständigkeit, ein "Zustand ohne Gewalt", wachsen kann. Statt einer Antwort formuliert er nur eine Bitte: "Lassen Sie nicht nach!"*Namen geändert
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.