Es ist leicht, den Weg in den thüringischen Maßregelvollzug Hildburghausen zu finden. Der Transporter eines Dienstes für Feuerlöscher setzt den Blinker, biegt von der B 89 in einen Hof, den bröckelnde Schuppen, die Ruinen zweier Häuser und ein wuchtiger Backstein-Koloss umstehen. In einer Glaskanzel, die wie eine betonierte Warze am Ziegel-Fachwerk klebt, warten zwei Weißkittel. Tags zuvor hat es gebrannt. Es sind Vorfälle wie dieser, die Hildburghausen immer wieder ins Gerede bringen. Drei Insassen hatten einen vierten als Geisel genommen und kündigten an, ihn zu töten, kämen sie nicht unverzüglich frei. Sie setzten Matratzen in Brand, um der Forderung Nachdruck zu verleihen. Ein entscheidender Fehler, wie sich zeigen sollte - der Tatort drohte für alle Beteiligten eine Todesfalle zu werden.
Beim Blick auf die verschmorten Betten fällt Anstaltsarzt Christoph Benkenstein zuerst der Gletscherbahn-Brand von Kaprun ein: "Da habe ich erst einmal begriffen, was das für eine Hölle gewesen sein muss." Am Ende taumelten Geiselnehmer und Geisel rauchvergiftet den Vollzugsbeamten entgegen; die Feuerwehr löschte den Brand, nach einer Stunde war alles wieder unter Kontrolle. Benkenstein weiß, dass es nach diesem Zwischenfall wieder Debatten geben wird. Fragen einer aufgeschreckten Öffentlichkeit, die sich nach jedem Zurwehme oder Schmökel auf der Flucht darin bestärkt fühlt, den Maßregelvollzug als eine Vorhölle zu sehen, in der man Kinderschänder, Serienmörder oder Pyromanen abklappt. Warum dürfen die noch Streichhölzer haben, Besuch empfangen, in der Anstalt arbeiten? Weshalb werden die von der Staatsanwaltschaft vorher informiert, dass man sie wegen Therapieunfähigkeit wieder in den Knast bringen wird?
"Wir haben hier Kranke, die zu Tätern geworden sind." Benkenstein beharrt auf dieser Formel. Und findet sie gerade durch die geschilderte Geiselnahme bestätigt: Einer der Beteiligten - verurteilt wegen Diebstahls - sollte nicht ins Gefängnis verlegt, sondern nach Hause entlassen werden. "Ein so genannter normaler Täter würde sich seine Chance auf Freiheit niemals so verbauen."
Maßregelvollzug - ein klares deutsches Wort. Wer zur Tatzeit wegen einer psychischen oder Suchtkrankheit für schuldunfähig befunden wird, dem erlegt das Gericht die Maßregel auf, sich therapieren zu lassen - im Jargon heißt das der "Jagdschein". Wer behandelt wurde, erringt danach nicht zwangsläufig die Freiheit. Straftäter, deren Strafmaß die durchschnittlich zweijährige Therapie überschreitet, müssen den Rest im Gefängnis verbüßen. Manchmal allerdings verzögert sich die Rückverlegung dorthin. Dann sitzen Menschen mit erstorbener Hoffnung mit jenen an einem Tisch, die zwar gefährlich, aber auch willig sind, den Weg der Therapie zu gehen. Benkenstein kann nicht alle in Einzelräumen unterbringen. In dieser Hinsicht gibt es nur einen Ort, den man früher "Gummizelle" genannt hätte: Verschraubte Möbel, Waschbecken ohne Kanten und Hahn, Rauchmelder, Videokamera im Deckenwinkel. Sonst aber ist der Sicherheitstrakt im Erdgeschoss eine Wohnung, ein Lebensraum: Hell gestrichene Räume, eine enge Küche, der Aufenthaltsraum mit Sitzecke und Fernsehapparat unter der Decke. Großzügig mag man die Zimmer nicht nennen. Ein Gebäude, das 1886 als Patientenhaus errichtet wurde, kann kaum mehr bieten. Im Garten wartet unter schattigen Bäumen eine Bank. Wer hier sitzen darf, schaut über das flache Tal der Werra auf eine wellige braungrüne Landschaft oder den Stahlzaun mit Stacheldraht und einen Wachmann mit Schäferhund.
Im Vordergrund steht die Behandlung. Deshalb ist der Maßregelvollzug kein Knast, sondern eine gesicherte Abteilung der Landesfachkrankenhäuser für Psychiatrie. Deren Klienten müssen keine Schmökels oder Zurwehmes sein. Es reicht, wenn einer im Alkohol- oder Drogenrausch einen so schweren Unfall verursacht hat, dass eine Freiheitsstrafe verhängt wird. Kommen dabei Prozessgutachter zu dem Schluss, der Delinquent sei alkohol- oder rauschgiftsüchtig, landet der Täter in Hildburghausen. "Suchtkranke gibt es in allen sozialen Gruppen", meint Benkenstein, "doch überwiegend kriegen wir hier die Ärmsten der Armen." Schon sich einem normalen Tagesablauf zu unterwerfen, bereite manchem erhebliche Probleme, der sein Leben über Jahre mit der Flasche statt nach der Uhr geführt habe.
Natürlich sind die zweifingerdicken Fenstergitter nicht nur Dekoration, auch nicht die Handschellen, die der junge Mann trägt, den zwei Pfleger zur Untersuchung ins Fachkrankenhaus begleiten. Die Wachen, die Tag und Nacht am Zaun patrouillieren, dürfen kein Wort mit den Insassen wechseln. Hinter der Artigkeit, mit der Patienten durch den Tag gehen, muss nicht, aber kann sich viel kriminelle Energie verstecken. Wären da nicht statt des Lebens in der Gruppe Einzeltherapien sinnvoller? Benkenstein wehrt ab. Zwar werde für jeden ein Behandlungsplan abgearbeitet; die Gruppensituation, das Auseinandersetzen mit anderen aber sei als Basis einer Therapie unverzichtbar: "Sozialverhalten lernt man nicht in der Einzelzelle." Wer nach Hildburghausen kommt, muss auf die üblichen Häftlings-Attitüden verzichten. Piercen und Tätowieren sind nicht erlaubt, weil nach Ansicht der Therapeuten jedes Bildchen, jede "Knast-Träne", die Schwelle in ein anderes, nicht kriminelles Leben anhebt. Pfleger und Ärzte achten darauf, dass sich Insassen nicht zur verfolgten Unschuld oder zum Rebellen aufbauen, indem sie hinter Gittern an einer Gegenwelt basteln. Manche Zeitschrift eindeutig rechtsextremen Inhalts wurde schon konfisziert.
Über dem verschmorten Bettgestell im Raum der Geiselnehmer hängt ein verrußtes Lonsdale-Kapuzenshirt. Vielleicht ein Zufall, vielleicht auch nicht: Wegen des "NSDA" im Firmennamen gelten die Sachen mit dem Hundelogo als Markenzeichen der rechten Szene.
Manches Problem, das anderswo besteht, kennt der Maßregelvollzug in Thüringen nicht. Es gibt keine Therapieabbrüche wegen Personalmangels wie in Brandenburg. Freilich wäre auch Christoph Benkenstein mehr Personal lieber, denn das hieße mehr Zeit, sich so intensiv wie individuell geboten mit den Patienten zu beschäftigen. Der bundesweite Mangel an forensischen Psychologen und Psychiatern macht um Thüringen keinen Bogen. Häufig kommen ein oder zwei Psychologen auf 100 Insassen - Zeichen für eine sich anbahnende gefährliche Situation können deshalb nicht verlässlich gedeutet werden. Mehr Zeit wäre auch hilfreich, damit interne und externe Gutachter ihr Urteil sorgfältiger ausloten können, falls eine Entlassung oder Aufenthaltslockerung ansteht. Weil jedoch die Zahl der Experten seit langem bei etwa 50 stagniert und die Fallzahlen wachsen, wird unter dem Druck von Öffentlichkeit und Politik im Zweifel zu schnell gegen den Patienten entschieden. Man behält die Klienten lieber länger, als sich dem Vorwurf einer zu großen Milde auszusetzen. "Es kommen mehr rein als raus", bestätigt auch Falk Oesterheld, Abteilungsleiter im Thüringer Sozialministerium. Er vermutet die Ursache jedoch eher in einer wachsenden Ausbreitung von Suchtkrankheiten, dem immer zeitigeren Zugang zu legalen und illegalen Rauschmitteln. Wohl auch im psychischen Druck einer immer aggressiveren Leistungsgesellschaft. 1993, als der Maßregelvollzug im Freistaat begann, belegten im Durchschnitt 40 Insassen die Plätze in Hildburghausen, Stadtroda und Mühlhausen.
"1994 empfahl uns eine Expertenrunde aus den alten Bundesländern, 80 Plätze vorzuhalten, um dem wahrscheinlichen Bedarf zu genügen", erinnert sich Oesterheld. Ende 2000 zählte das Ministerium 149 Patienten bei 132 Plätzen. Die Einrichtungen sind chronisch überbelegt; Mühlhausen zeitweise mit über 160 Prozent. Eine Entlastung durch andere Bundesländer ist kaum möglich: Überall herrscht drangvolle Enge. Höchstens tauschen gehe noch, so Christoph Benkenstein: Ein "schwerer Junge" geht nach Bayern, ein leichterer Fall rückt dafür in Hildburghausen ein. So lasse sich wenigstens ab und zu die Überbelegung im Sicherheitstrakt mildern.
Der neue Landespsychiatrieplan soll 180 "Bedarfsplätze" in Thüringen festschreiben - herzustellen über "Neu- und Ersatzneubauten" an allen drei Standorten. Weil indes die Privatisierung der Landesfachkliniken samt Maßregelvollzug bereits begonnen hat, beschreibt dieser Plan vorerst den Wunsch der Politik, den auszuführen späteren privaten Betreibern vorbehalten bleibt. Mit einem Wort: Es kann noch dauern. Mindestens zwei Jahre, schätzen Kritiker des von Sozialminister Frank-Michael Pietzsch (CDU) forcierten Verkaufsprogramms. Bis dahin werde man sich mit "Zwischenlösungen" durch "Aufsichern" vorhandener Gebäude behelfen, erläutert Abteilungsleiter Oesterheld. Dass "Zwischenlösung" auch heißen könnte, künftig drei oder vier Patienten in ein Zimmer zu legen, wo heute zwei untergebracht sind, will er nicht ausschließen: Anstaltsleiter Benkenstein hält wenig von derlei Aufbettungs-Philosophie, überhaupt sei es "wenig durchdacht", den Maßregelvollzug privaten Betreibern zu überlassen.
Privatisierung heißt: Patienten bringen Geld, je länger sie bleiben, desto besser
Eine Kritik, die sich an vollendeten Tatsachen reibt, denn längst steht fest, dass die Hildburghäuser Klinik samt Vollzug an die bayrische Rhönkliniken AG verkauft wird. Benkenstein erwartet Interessenkonflikte, "wenn etwa neue therapeutische Ansätze als nützlich erkannt, aber mehr Aufwand nach sich ziehen würden". Ob sich die öffentlichen Ausgaben für den Maßregelvollzug - ein Patient kostet zwischen 320 und 600 Mark täglich - künftig verringert, darüber herrscht allenthalben Zweifel. Schließlich wird der Staat dann für den Aufwand einstehen müssen, den ihm die privaten Klinikbetreiber vorrechnen. Privatisierung heißt: Patienten bedeuten Geld, je länger sie bleiben, desto besser.
Ob nun in privater oder staatlicher Hand: Die Loyalitätskonflikte von Therapeuten, die Arzt und Bewacher in einem sein müssen, lassen sich "draußen" nur schwer vermitteln und schon gar nicht als Frage formulieren, ob Süchtigen oder psychisch Kranken, die Täter geworden sind, tatsächlich hinter Gittern geholfen werden muss. Jeder Zurwehme oder Schmökel erstickt solche Debatten im Ruf nach absoluter Sicherheit. Der Zorn auf die "Verhätschelung von Verbrechern" ist mehrheitsfähig und beeindruckt die Politik. Thüringens Sozialminister Pietzsch rief die Leiter der Fachkliniken wiederholt auf, die Bewilligung von Lockerungsmaßnahmen wie Urlaub oder Freigang restriktiver zu handhaben. Auch elektronische Fußfesseln und Polizisten statt Pfleger als Begleitung beim Familienbesuch sind im Gespräch. Dabei ist es den Ärzten im Maßregelvollzug durchaus nicht freigestellt, etwa nach eigenem Ermessen zu entscheiden. Über die Vergabe der zehn Lockerungsstufen entscheidet die Strafvollzugsbehörde in Abstimmung mit Therapeuten, Anstaltsleitern und Gutachtern. Lockerungsmaßnahmen sind nicht "Belohnung", sondern funktionaler Bestandteil der Therapie, die auf Resozialisierung zielt. Eine Maßgabe, die im Thüringer "Psychiatriegesetz" von 1994 formuliert ist. Auch Abteilungsleiter Oesterheld weiß, dass fast alle Freigänger pünktlich und die "Überzieher" fast ausnahmslos ohne Polizeifahndung in die Gitter-Klinik zurückfinden. Freilich: 25 der 30 Patienten, die bislang in Thüringen ihren Betreuern entkamen, nutzten den Freigang zur Flucht. Christoph Benkenstein warnt trotzdem davor, Sicherheit durch Repression erkaufen zu wollen: "Wegsperren erhöht nur den Druck drinnen. Irgendwann geht dann der Kessel mit einem Ausbruch hoch."n
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