Straßen, mit Häusern dran

Im Alten Land Thüringens Dörfer werden zu Altenheimen - schon in 30 bis 40 Jahren könnten ganze Ortschaften ausgestorben sein

Das ist kein neues, sondern ein junges Land im Kreis der 16 namens Bundesrepublik, sagt Bernhard Vogel (CDU) jedem, der über Thüringen spricht und den Freistaat achtlos unter "Neue Länder" subsummiert. Das mag historisch richtig sein. Leider aber kommt der durchschnittliche Thüringer nicht knackig-jung über die Wurst, sondern ziemlich alt. Elf Jahre nach der DDR und nach elf Jahren pflichtschuldiger Dynamik vergreist das junge Land. Am stärksten trifft es die kleinen und ganz kleinen Orte - Dörfer, denen das Aussterben einst verordnet wurde und die nun im freien Spiel der Marktkräfte die Jugend verlieren. Noch lässt das Elend der demografischen Prognose keine verlassenen Häuser einstürzen oder Bus- und Telefonlinien kappen. Doch hinterlässt der Exodus der Jungen seine Spuren im Land.

Lunzig, ein "greises Nest"?

Um zehn nach drei rollt der "Eis- und Nudeldienst" heran. Die Fanfare quäkt vier Takte aus dem Aida-Finale, der blau-weiße Kleinbus biegt halblinks in die Buswendeschleife, prüfend blickt der Fahrer ins Häuserrund, wieder tönt das Horn, der Mann im weißen Feinripp schüttelt den hochroten Kopf, drückt das Gaspedal durch, der Kreis öffnet sich zur Ortsausfahrt - kein Geschäft in Rattelsdorf. Und es ist immer noch zehn nach drei. Die Sonne schickt milde Feierabend-Strahlen ins Tal, unter Brücken murmelt der Bach, leere Bänke schweigen über den Platz. "Schaschlyk 3,00 DM", lockt die Kreide am Scheunentor, aber nein, kein Laben heute: Die Offerte blieb vom Dorffest übrig, die Kneipe ist abgebrannt vor fünf Jahren schon.

Im Schatten alter Bäume, wo die Straße zum Waldweg wird, schraubt Nico Schreier am zerbeulten Moped. Sein erstes Hobby. Das zweite: Fernsehen. Das dritte: Abhauen. "Nur weg", das hat sich der 17-jährige vorgenommen, sobald das mit der Ausbildung klappt. Bis dahin bleiben Hobby eins und zwei. Gibt´s keinen Jugendtreff? - "Wozu ?". Wenn sich die fünf Rattelsdorfer Jugendlichen unterhalten wollen, genügt eine Bank. Lohnender wäre für den Ort im Saale-Holzland-Kreis ein Seniorenklub: 25 der 95 Einwohner sind 65 Jahre oder älter. Macht 26,3 Prozent.

Darüber rangiert in Thüringen nur noch Lunzig im Landkreis Greiz: 26,9 Prozent der 193 Einwohner waren dort Mitte 2001 im Rentenalter, hat das Landesamt für Statistik ermittelt. Augenblicklich könnte Lunzigs Altersquote etwas tiefer liegen, denn es gäbe zwei Sterbefälle in diesem Jahr, meint Frau Halbauer, die als ABM-Kraft die Ortschronik führt und den Schriftkram für den ehrenamtlichen Bürgermeister. Nein, einer war´s, der alte Baumann, korrigiert Frau Noll, die Rentnerin ist und Lehrerin war und gemeinsam mit ihrem Mann Lunzigs zweitberühmteste Sehenswürdigkeit bestellt: den Botanischen Garten. Hierher kommt, wer Attraktion Nummer eins - die Leuba-Talsperre - umrundet hat und fertig ist mit der Beschau des ehemaligen Ritterguts, eines der ältesten im Vogtland. Manchmal ärgern sich die Nolls, wenn achtlose Gäste grußlos durch ihren Garten trampeln oder gar eins der über tausend Pflanzen knicken, die das Paar von den Gebirgen dieser Welt zusammentrug. Aber nein, verschließen würde sie die Pforte trotzdem nicht. Wer zu Fleischwurz und Enzian kommt, der wird schließlich auch sehen, wie schön das Dorf ist, eine Idylle, Wasser, Wald und Hügel. Es fehlt an nichts.

Das findet auch Jürgen Oettler, Bürgermeister sowie Inhaber von Gasthof und Pension Zur Linde. Lunzig, ein "greises Nest"? Oettler kann nur staunen. "Wir haben doch sogar Wohnraum geschaffen, damit die jungen Leute unterkommen. Kein einziges Haus steht leer." In den Westen war nur ein Lunziger gezogen, aber der kam schon 1994 zurück und fand wieder Arbeit. Dass demnächst weitere West-Wanderer sich aufmachen könnten, glaubt Oettler nicht: Es gibt nur drei Erwerbslose im Ort. Manchmal sei das ein Problem: "Wird mir eine ABM-Stelle bewilligt, muss ich die Leute dafür woanders suchen." Woanders - das sind die ehemaligen "Zentraldörfer", in denen die Arbeitslosigkeit nicht selten das Drei- bis Fünffache der Bauerndörfer erreicht.

Was auffällt: Lunzig hat viele, sehr alte Bürger und ein gutes Dutzend im Alter bis 20, die kahle Stelle im Lebensbaum sitzt in der Mitte: Die Generation zwischen 40 und 60. Ein Phänomen, das sich auch bei anderen Alt-Gemeinden zeigt. Der Rattelsdorfer Ortsbrandmeister Andreas Hädrich nennt es den "LPG-Knick": Im Zuge der "Kollektivierung der Landwirtschaft" zog es zwischen 1960 und 1965 die jungen Leute weg aus den kleinen Bauerndörfern, entweder in die Industrie oder zu den Agrarbetrieben der größeren Gemeinden, die mit Neubauwohnungen, Schulen, Konsum und Kulturhaus lockten, während die kleinen Orte Stück um Stück abgekoppelt wurden vom allseits besseren Leben im Sozialismus. "Aussterbedörfer" hieß das; Herr Noll, der damals beim Landwirtschaftsamt arbeitete, kann sich noch erinnern: "Sieben Kategorien mit noch einmal gesonderten Abstufungen gab es." Lunzig war Abteilung 7c - ganz unten also. Was bedeutete, dass die Dörfler sich zwar einen Konsum bauen durften, aber Baugenehmigungen für Wohnhäuser gab es keine bis kurz vor dem Ende der DDR.

Noch werden keine Telefone gekappt

"Die Abwanderung in den Westen Anfang der neunziger Jahre sowie der Einbruch in den Geburtenzahlen", meint Professor Peter Sedlacek vom Institut für Geografie der Universität Jena, "haben den Prozess der Überalterung in bestimmten Regionen noch einmal beschleunigt. Wenn die Entwicklung so weiter läuft, werden wir in 30 bis 40 Jahren brachliegende Dörfer in Thüringen haben." Schon vorher aber werde sich die Frage stellen, welchen Sinn es hat, in den neuen "Aussterbe-Gemeinden" immer mehr Geld in eine öffentliche Infrastruktur für immer weniger Menschen zu stecken. Das Beispiel fast leerer Viertel an der Peripherie einiger Städte gebe darauf schon heute eine Antwort: "Man wird die Reißleine ziehen müssen, man muss Gemeinden zusammenlegen, um lebensfähig zu bleiben. Auf den ganzen Freistaat projiziert, wären Einheiten von der Größe der alten DDR-Kreise denkbar." Sedlacek weiß, dass seine Vorschläge einen Sturm der Entrüstung unter Bürgermeistern und Kommunal-Lobbyisten entfachen; trotzdem prophezeit er: "Nach der nächsten Landtagswahl wird die Politik dort ansetzen ..."

Ganz Thüringen altert, besonders trifft es Dörfer im Nordosten des Freistaates. Während landesweit der Anteil der Menschen über 65 von 15 Prozent im Jahr 1995 auf 16,3 Anfang 2000 stieg, bewegen sich die Landkreise Greiz, Altenburger Land und Kyffhäuser um die 18 Prozent. Spitzenreiter ist mit fast 20 Prozent Rentnern der Saale-Orla-Kreis. Hier liegen Dittersdorf, Bucha und Schmorda - die Plätze sechs bis acht in der Rangliste der betagtesten Einwohnerschaften. Dort löst sich manche liebgewordene These von Politik und Planung buchstäblich im Nichts auf. Etwa die Erwartung, nahe Bundesstraßen oder Autobahnen sorgten für Investitionen und neue Jobs.

Beispiel Dittersdorf: Die 240-Seelen-Gemeinde bei Schleiz liegt direkt an der A 9. Doch das Gewerbegebiet, für das sich die Kommune hoch verschuldet hat, steht halb leer. Zu abgelegen sei die Gegend, meinten die wenigen Interessenten, nur schlecht erweiterungsfähig die Fläche wegen der Nähe eines geschützten Teichgebietes. Lieber zog man weiter bis nach Oettersdorf oder Schleiz, "wo halt ein paar Leute mehr wohnen", wie Ex-Bürgermeister Willi Kühnel einräumt. Oettersdorf, ehedem "Zentralgemeinde" und heute Sitz der Verwaltungsgemeinschaft "Seenplatte", hat seit kurzem ein Sportzentrum inklusive Hallenbad, Sauna und Bowling. Dittersdorf aber hat das Nachsehen. Für die noch schnellere Straße nach Schleiz musste die Dorfkneipe samt Saal weichen; ganze vier Einfamilienhäuser entstanden nach der Wende. "Der Verkehr schreckt die Leute ab", sagt Kühnel und zeigt auf ein großes Bauernhaus an der Kreuzung. "Fünf Kinder sind dort groß geworden, geblieben aber nur die Alten."

"Wir haben hier jede Menge Ruhe. Die könnten wir glatt exportieren." Hubert Grau wird sarkastisch, wenn Fremde die Idylle preisen. Bucha, im sattgrünen Tal gelegen, zeigt Postkarten-Fachwerk mit Wald und Teich samt Gänsen. Wenn er scharf nachdenkt, bekommt Bürgermeister Grau zusammen, wo seine knapp 90 Einwohner früher in Lohn und Brot standen: Die Schweinemast "SZM" bei Neustadt/Orla - geschlossen und abgerissen. Die Fabrik für Autospiegel in Schleiz - verschwunden. Die "Plaste" in Triptis - leer geräumt. Die VEB Binnenfischerei in Knau - nur noch ein winziger Familienbetrieb. Der sanfte Tourismus - Hoffnung aller Deindustrialisierten - war in Gestalt des "Reiterhofes Karl Czech" leider schon pleite, bevor die ersten Gäste kamen: Darlehenssperre der Banken. Auch die Wirtsleute der "Buche" sind weg: Mit Western-Ambiente und Pferdefleisch hatten sie auf´s falsche Tier gesetzt. Mögen Stadtmenschen oder Chinesen Roulade vom Ross auch goutieren; die Buchaer taten es nicht. Chinesen aber sind selten in ostthüringischen Dörfern.

"Wer heute Arbeit hat", sagt Grau, "der fährt und fährt und ist breit, wenn er nach Hause kommt". Tagsüber sei Bucha "eine Straße mit Häusern dran", wo die Alten auf Bänken säßen und warteten, dass die Jungen heimkämen. So löst sich das Dorfleben fast unmerklich auf: Im alten Gemeindehaus durften sich die minderjährigen Buchaer einen Jugendtreff einrichten, zwei 16-jährige als Antreiber des Projekts sind gerade mit dem Malern fertig. Demnächst jedoch verlassen sie den Ort wegen der Berufsausbildung. Grau hofft, neue Aktivisten rücken nach. Der Bürgermeister wird mit den 14- und 15-jährigen reden. Das geht schnell: Es gibt nur drei in Bucha.

Noch sieht man es den Dörfern kaum an, dass sie zu Altenheimen werden. Allenthalben renovierte Häuser, in den Gärten Schnee auf Fichten und Lärchen, davor gepflegte Wanderwege. Auch die Zugezogenen fühlen sich wohl. Sebastian Kulenkampff etwa, der als Klarinettist von der Nordsee ins Vogtland kam und das Haus von Marga Gebhardt kaufte, die vor 40 Jahren nach Amerika ging. "Ruhe und Freundlichkeit" schätzt der 38-jährige am Lunziger Leben und dass die Kinder einen Garten haben, Wald und Felder. Wenn Kulenkampffs und ihre Bekannten mit ebenfalls zwei Kindern durchs Dorf schlendern, dann sind fast alle Kindergarten-Sprösslinge Lunzigs vereint. Dem harmonischen Bild tut das keinen Abbruch. Vergreisung?

Schwarze Bretter, die nichts verkünden

Es sind die unscheinbaren Dinge, die es spüren lassen: Die Schwarzen Bretter, die kaum anderes verkünden als amtliche Verlautbarungen. Der Tanz, der nur noch in den Nachbarorten stattfindet. Die Läden, die erst schließen und dann als rollende Shops wiederkehren, mit dem stets gleichen Angebot, weil die Alten nur kaufen wollen, was sie schon kennen. Der Bus, der seltener kommt oder gar nicht mehr. Eine Stille, die ungestört bleibt von Mopedlärm und Popmusik. Manchmal, wenn sich die Feierabend-Bürgermeister treffen, reden sie beim Bier über Jugend, die aus den Dörfern rinnt. Über die Schulwege, die immer länger werden und die Autos, mit denen die Jungen auf der Suche nach Spaß außerhalb von Feuerwehr und Landfrauenbund zu Freizeit-Pendlern werden wie die Eltern im Job. Doch ob sie nun Jugendzimmer bereit halten, den Kindergarten umbauen oder noch einen Feuerwehr-Verein gründen, gegen den Sog in die nahe Ferne kommen die Dorfschulzen nicht an. "So lange man die Arbeit nicht wieder zu den Menschen bringt, müssen die Jungen ´raus", meint Buchas Bürgermeister Hubert Grau. "Ob sie dann weg oder hier bleiben, hängt von ihren Ansprüchen an das Leben ab. Mithalten mit den Städten oder gar dem Westen können wir sowieso nicht, sondern nur bieten, was wir noch haben". Grau blickt von seiner Gartenbank hinunter auf Bucha: "Mehr wird´s bestimmt nicht."

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