Ein Euro für die Riesentüte

Mazedonien Während Mazedonien in der EU-Warteschleife kreist, laufen ihm die Bürger weg. Um einen Job in der EU zu bekommen, verschaffen sich viele die bulgarische Staatsbürgerschaft

Er hatte Gott gebeten, nicht noch einmal zurückgeschickt zu werden. Nicht noch einmal nach Shutko Orizari, in Europas größtes Roma-Viertel am Rand von Mazedoniens Hauptstadt Skopje. Ein Rayon des Elends und des Trübsinns mit etwa 35.000 Einwohnern. Der 41-jährige Erin Kurtis wollte nie wieder dort leben müssen. Neben Müllhalden und im Schmutz. Geholfen hat es nichts. Die niederländischen Behörden lehnten seinen Asylantrag Anfang des Jahres ab. Tage später saß Kurtis im Flugzeug von Amsterdam nach Skopje. Einer von Tausenden Mazedoniern und Serben, die in den vergangenen Jahren Asyl in den Niederlanden, in Belgien, Schweden und Frankreich erbaten. Allein in Deutschland stieg die Zahl solcher Begehren von 690 (2009) auf 7.444 im Vorjahr. Buchstäblich alle Anträge wurden abgelehnt. EU-Kommissarin Cecilia Malmström fragte Ende 2010 unwillig beim serbischen wie mazedonischen Innenminister an, ob sie nicht mehr tun wollten, um den Asylantenstrom einzudämmen.

Das hat geholfen. Reisefreudige Mazedonier werden seither an der Grenze von Zöllnern nach ausreichenden Finanzmitteln für die Hin- und Rückreise befragt. „Außerdem überlegt die Regierung in Skopje, all jene, die schon einmal einen Asylantrag in einem anderen Land gestellt haben und zurückgeschickt wurden, durch einen Stempel im Reisepass zu stigmatisieren“, meint Vesna Bojadziska, Mitarbeiterin bei Nadez (Hoffnung), einer Hilfsorganisation in der Kleinstadt Shutka, die versucht, mit niederländischem Geld Heimkehr und Reintegration mazedonischer Roma zu koordinieren. Vesna nimmt es gelassen, dass die Stempel-Aktion so diskriminierend ausfällt. „Einerseits ist es ein Verstoß gegen die Menschenrechte. Andererseits verstehe ich, dass die Regierung die Visafreiheit gegenüber der EU nicht riskieren möchte.“ Nadez betreut derzeit 29 mazedonische Roma-Familien, die aus den Niederlanden als gescheiterte Asylbewerber wiederkamen.

Erin Kurtis ist mittlerweile bei seiner illegal gebauten Wohnung am Rande von Shutko angekommen. Er kaufte sie vor Jahren für 7.500 Euro einem Nachbarn ab, als er Italien wieder verließ, wo er in einer Mehlfabrik gearbeitet hatte. „Schau dir doch die Umgebung an.“ Er zeigt auf das Chaos ringsherum. „Die Leute hier leben von gesammelten Plastikflaschen. So eine Riesentüte, voll mit Flaschen, bringt vielleicht einen Euro. Das ist doch kein Leben.“ Auf der anderen Straßenseite stehen große, schöne Häuser. „Die gehören den Albanern von Shutko“, meint Kurtis. „Die haben ihr Geld in der Schweiz verdient oder sind mit Drogen oder Waffenhandel reich geworden. Die Albaner hier sind aggressiv – ich will mit denen nichts zu tun haben.“

Kurtis sitzt in einem Einzimmer-Appartement neben seiner Freundin Daniela am Küchentisch. Auf der Couch schläft die sechs Monate alte Tochter Matilda. „Ich war nicht nur in Italien und in Holland, vorher auch ein paar Jahre in Deutschland. Und ich hasse es, wieder in Shutko zu sein. Ich mag die Menschen nicht, ich habe keine Arbeit und bin abhängig von meiner Freundin, die in einem Krankenhaus arbeitet. Die Organisation Nadez wollte mir bei der Eingliederung helfen, aber die bieten mir nichts weiter als Ausbildung. Die brauche ich nicht! Ich spreche deutsch, niederländisch, italienisch. Ich möchte Taxifahrer werden. Ich möchte, dass Nadez mich beim Kauf eines Taxis unterstützt. Aber das tun die nicht.“

Vesna Bojadziska bestätigt, dass viele ihrer Klienten besonders materielle Hilfe erwarten. „Die meisten haben all ihre Sachen verkauft, um die Reise nach Deutschland oder Holland zu finanzieren. Bei der Rückkehr haben sie oft nichts mehr und wollen dann vor allem Möbel und Hausrat.“

In der Nacht ausgesetzt

In Mazedonien hält sich seit Jahren eine Arbeitslosigkeit um die 30 Prozent. Die rechtskonservative Regierung von Premier Nikola Gruevski hat deshalb das Konjunktur- und Infrastrukturprogramm Skopje 2014 aufgelegt. Rund um Makedonska, den zentralen Platz von Skopje, stehen mehrere Prunkbauten kurz vor der Vollendung, der neue Justizpalast im neoklassischen Stil, das neue Theater, das Nationalmuseum. Beschirmt wird das Ensemble von einer Säule mitten auf dem Platz, auf der Alexander der Große steht, der bekannteste Mazedonier aller Zeiten.

„Nicht gerade ein kluger Weg, um auf die Griechen zuzugehen“, meint Vesna Bojadziska. Griechenland blockiert eine mazedonische Mitgliedschaft in der EU, solange das Land darauf besteht, sich Mazedonien zu nennen. In Griechenland gibt es eine gleichnamige Provinz im Norden, und man befürchtet Gebietsansprüche. Die Regierung in Athen hat Anfang des Jahres sämtliche Zugverbindungen von Thessaloniki nach Skopje ersatzlos gestrichen. Mazedonier, die zu einem Kurzurlaub nach Nordgriechenland fahren, bekommen keinen Stempel in ihren Reisepass. Der wird von Griechenland nicht anerkannt. Stattdessen gibt es ein gesondertes Papier mit Ein- und Ausreisesiegel.

Nicht nur Roma aus Skopje oder Shutko versuchen, Mazedonien zu verlassen. Auch Kratovo, eine Kleinstadt im Osten, werde von einem Exodus erfasst, meint Rada Zafirova, die örtliche Schuldirektorin. „Unsere Romaschüler sind fast alle verschwunden, von einem auf den anderen Tag. Das ist schlimm, denn sie gehen ohne Nachweis über ihren bisherigen Schulbesuch – und den werden sie irgendwann brauchen.“

Aus ihrem Laptop klingen leise die Beatles. Zafirova sagt, sie wage es nicht mehr, in die Zukunft zu schauen. Es sei doch möglich, dass die Abwanderung ungebremst weitergehe. Sie schaue lieber zurück. „Als wir noch Teil Jugoslawiens waren, ging es uns besser. Man konnte nach Zagreb reisen, sich im Park auf eine Bank legen und am nächsten morgen waren all deine Sachen noch da. Früher hatte man mehr Respekt und Achtung vor einander. Man grüßte sich und hatte Blumen im Garten ...“ Bob Dylan hat mittlerweile die Beatles abgelöst. „I ain’t lookin’ to compete with you Beat or cheat or mistreat you ...“

Ein paar hundert Meter von Rada Zafirovas Schule entfernt wohnt Kenan Hasanov, ein hagerer Typ mit dunklen Locken. „Komm mit zu meinem Haus“, sagt er, „dann zeige ich dir, wie wir leben.“ Hastig verlassen wir die Terrasse des Bistros im Ortszentrum. „Ich zahle später!“, ruft Hasanov in Richtung Kellner. Es geht den Hang hoch, durch winzige, unebene Gassen, durchs Roma-Viertel von Kratovo. Hasanov bewohnt ein Haus direkt an einer durchgehenden Straße. Hoffentlich fliegt hier kein Auto aus der Kurve, denkt man. Das würde mitten im Zimmer landen.

Im winzigen Hof sitzt Hasanovs Vater wie ein treuer Wachhund und raucht eine Zigarette nach der anderen, einer von 14 Familienmitgliedern unter diesem Obdach. Darunter Schwester Monika, die gerade wie ihr Bruder Kenan nach einer misslungenen Einwanderung aus den Niederlanden zurückgekehrt ist. In wenigen Tagen erwartet die Familie auch Kenans Bruder aus Deutschland zurück. „Sieh doch, wie ich lebe!“, meint er empört. Er zeigt ein halb fertiges Zimmer. „Ich habe kein Geld, um dieses Haus irgendwann einmal zu Ende bauen zu können. Wo soll mein Bruder mit seiner Familie schlafen? Ich weiß es nicht.“

Um nach Holland zu kommen, verkaufte Hasanov den Schmuck seiner Ehefrau. Ein Serbe brachte die beiden mit seinem Bus ins niederländische Emmen. Ein Ort, kurz hinter der deutschen Grenze bei Meppen. Hasanov: „Es war mitten in der Nacht, als er uns einfach aussetzte. Es regnete unaufhörlich. Ich bin bis zum frühen Morgen mit meiner schwangeren Frau gelaufen – bis wir in Ter Apel ankamen, wo es ein Asylantenheim gab.“ Von dort wurden die beiden ein paar Tage später nach Leeuwarden geschickt, wo Hasanovs Frau ihr Kind bekam. Er legt eine Art Geburtsurkunde auf den Tisch. „Es gibt ein Problem. Ich bin nicht als Vater eingetragen. Das wird später zu Schwierigkeiten führen, da bin ich sicher.“

Weg aus dem Dreck

Nachdem seine erste Ehe in die Brüche ging, heiratete Hasanov eine Albanerin. „Ihre Brüder wollten eigentlich nicht, dass sie einen Rom nimmt. Deswegen haben sie mich mehrmals zusammengeschlagen, zur Abschreckung. Das war auch der Grund, weshalb ich vor ein paar Jahren schon einmal nach Deutschland geflohen bin. Nachdem ich mein Auto verkauft hatte, um die Reise zu bezahlen, kam ich nach Düsseldorf und lebte wie ein Hund drei Monate auf der Straße.“

Am liebsten würde er wieder ins Ausland flüchten, weg von seiner Familie, weg aus dem halbfertigen Haus, weg aus dem Dreck, weg von der Aussichtslosigkeit. Arbeit gibt es in Kratovo nicht. Wer kann, der geht. Die Bevölkerung der Kleinstadt hat sich seit Ende der neunziger Jahre halbiert, so dass kaum mehr als 5.000 Einwohner übrig blieben. Vielleicht, sagt Hasanov, sollte er es so machen wie Oliver Bogdanski, ein Nachbar, der gleichfalls in Deutschland gearbeitet hat. „Und zwar legal, als LKW-Fahrer. Er hat die bulgarische Nationalität beantragt, wie das Hunderttausende im Osten Mazedoniens getan haben. Jeder, der beweisen kann, dass er bulgarische Wurzel hat, kann einen zweiten Pass bekommen. Damit bist du EU-Bürger und kannst fast überall arbeiten. Du kannst auch ein Auto aus Bulgarien importieren, das preiswerter ist in Mazedonien.“

Hasanov meint, es sei einfach, einen bulgarischen Pass zu bekommen. „Es gibt viele kleine Büros, die dich für ein paar Hundert Euro durch die ganze Bürokratie lotsen. Das ist zwar illegal, aber viele in Mazedonien machen es so.“ Kenan Hasanov weiß selbst, dass er sich mit dem Wunsch nach neuen Papieren unerfüllbaren Hoffnungen hingibt. „Es ist nun einmal nicht zu ändern, dass ich ein Rom bin. Roma mit einem muslimischen Namen, wie ich ihn trage, haben keine Chance auf einen bulgarischen Pass.“

Jeroen Kuiper ist niederländischer Journalist und derzeit auf Reportagereise in Südosteuropa unterwegs

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