Mit einem Toyota-Jeep dauert die Fahrt in Venezuelas sozialistische Zukunft 20 Minuten. Sie führt von der Metro-Station Gato Negro im armen Westen von Caracas zur Ciudad Caribia, einer sozialistischen Mustersiedlung, die es erst seit ein paar Jahren gibt. Wo jetzt sechsstöckige Wohnblöcke stehen und rund 10.000 Venezolaner leben, erhoben sich noch 2005 kahle Berge. Die Hügel könnten noch immer unberührt sein, hätte nicht eines Tages Hugo Chávez mit einem Helikopter das Terrain überflogen. „Dies ist ein guter Ort, um eine neue Stadt zu bauen“, befand der Comandante. Und so geschah es.
„Das Leben hier gefällt uns“, sagt Deisy Sánchez. Die 52-Jährige zählte zu den Ersten, die Ende August 2011 in Ciudad Car
Ciudad Caribia einzogen. Heute führt sie ein kleines Geschäft im Souterrain eines der Wohnblöcke. Die Appartements seien von einer venezolanisch-kubanischen Firma entworfen worden, erzählt sie. In der Regel habe man vier Zimmer und könne darüber nur zufrieden sein. Ciudad Caribia gilt als Referenzprojekt der Gran Misión Vivienda, eines der vielen Sozialprogramme, die der Regierung des im März gestorbenen Präsidenten Chávez zu verdanken sind. Bis 2019 sollen im ganzen Land etwa drei Millionen Wohnungen entstehen, um der chronischen Unterversorgung zu begegnen. Bisher freilich kann die Gran Misión nur 25.000 neue Unterkünfte pro Jahr vorweisen. Insofern ist es mehr eine hoffnungsfrohe als sichere Prophezeiung, dass in Ciudad Caribia schon bald bis zu 100.000 Menschen leben werden.Hinter den Gittern ihres Ladens hervorschauend, die nötig sind, um sich vor Dieben zu schützen, relativiert Deisy Sánchez die Vorzüge ihres Quartiers ein wenig. „Es gibt erst zwei Schulen. Die Bäckerei ist schon wieder geschlossen, eine Apotheke fehlt ebenso wie ein Mercal – das heißt, wir müssen zum Einkauf oft bis nach Caracas.“ Der Mercal ist ein Staatsladen, wo es für wenig Geld subventionierte Waren gibt. Seit dort für sogenannte Basisprodukte Preisgrenzen gelten, sind Zucker, Mehl und Fleisch oft nicht zu haben.Vom Zelt in den Neubau„Haben Sie Frischmilch?“ – fragt eine junge Frau bei Deisy Sánchez nach. Die Kundin heißt Alexandra Yoannis, ist 23 Jahre alt, hat vier Kinder und wohnt seit zwei Monaten in der Ciudad Caribia. Wie alle hier gehörte sie zu den Hunderttausenden, die sich auf Wartelisten registrieren ließen. Auf denen findet man häufig Obdachlose, deren Wellblechhütten den letzten Tropensturm nicht überstanden haben. Zumeist campieren sie monatelang in leer stehenden Bürohäusern oder Zeltlagern. „Ich bin froh über den Einzug in Ciudad Caribia“, sagt Yoannis. „Nur die versprochenen Möbel sind bisher nicht eingetroffen.“ Neben der kostenlosen Erstausstattung gibt es für jede Wohnung auch einen Internet- und Fernsehanschluss zum Nulltarif.Nach Auskunft von Roberto González erhalten die Bewohner von Ciudad Caribia ihre Einrichtung zu 60 Prozent umsonst. Die restlichen 40 Prozent müssen sie in Raten zurückzahlen. González arbeitet ehrenamtlich für Radio Caribia und damit ein Netzwerk alternativer Medien, das vom Ministerium für Kommunikation unterhalten wird. „Ja, natürlich wird Nicolás Maduro bei der Präsidentenwahl am Wochenende siegen“, sagt er. Auch weil es Projekte wie Ciudad Caribia gäbe. „Leider suchen die Leute dort vergeblich nach Jobs. Wir hoffen aber, dass bald zwei neue Fabriken öffnen – eine Verpackungsanlage für Lebensmittel und ein Werk, um Plastikrohre zu produzieren.“Eingebungen vom VögelchenIm vergangenen Sommer mussten bei einigen Appartements die dünnen Außenwände ersetzt werden, weil sie – wie die Architekten mitteilten – aus ungeeignetem Material hergestellt waren. In den meisten Aufgängen hat zudem Regenwasser die Innenwände verunstaltet. Durch die Treppenhäuser weht Reggae-Musik, und an den Wohnungstüren hängen ausnahmslos Wahlplakate von Maduro. Wie könnte es auch anders sein? In dieser Modellstadt sind seine Anhänger unter sich und anderthalb Jahrzehnte bolivarischer Sozialismus zu besichtigen: gut gemeint, aber oft ziemlich improvisiert. Den Menschen aber reicht das völlig. Dort zu wohnen, das heißt, Notlagern oder anderen Asylen der Trostlosigkeit entkommen zu sein. „Niemand hat so viel für die Armen getan wie Chávez“, meint Alexandra Yoannis.Der 50-Jährige Nicolás Maduro hat sich im Wahlkampf so präsentiert, als sei er ein Sohn des einstigen Staatschefs, den die Vorsehung dazu berufen habe, dessen politisches Erbe zu verteidigen. Eigene Ideen, vor allem ein souveränes Charisma kommen da naturgemäß zu kurz. Maduro tut gelegentlich des Guten zu viel: beispielsweise, wenn er bei jeder Rede den toten Comandante zitiert. Die Grenze zur Lächerlichkeit ist überschritten, wenn Maduro öffentlich eine „spirituelle Eingebung“ schildert: Chávez habe ihn in Gestalt eines Vögelchens besucht und sei für einen Augenblick um seinen Kopf geflattert.Dem Oppositionskandidaten Henrique Capriles kommt dieser Politkitsch sehr gelegen, um sich als Alternative zu empfehlen. Er will zwar einiges anders machen als Chávez, zugleich aber setzt auch er auf Kontinuität – große Teile der Misiónes sollen erhalten, der Mindestlohn um 40 Prozent angehoben und das zerrissene Land vereint werden.Aber so wie es aussieht, wird Capriles wohl die Probe aufs Exempel erspart bleiben. Glaubt man den Umfragen, wird Maduro die Wahl gewinnen – für die bürgerliche Opposition wäre das eine weitere Niederlage, für die Chavistas ein Lebensbeweis der Revolution – und für die Leute in Ciudad Caribia eine Garantie, dass ihnen niemand ihr Refugium streitig machen wird.