Noch zwei Monate hätte er zu leben, meldeten Teile der venezolanischen Presse im Mai. Also dürfte es Hugo Chávez inzwischen nicht mehr geben. Wie dramatisch sein Zustand tatsächlich war, zeigte sich Anfang April, als er in einer Kirche seiner Geburtsprovinz Barinas kniete und weinte. „Jesus, gib mir deine Krone, gib mir dein Kreuz, gib mir deine Dornen, damit ich bluten kann – aber gib mir auch Leben. Ich möchte noch mehr für dieses Land und dieses Volk tun. Nimm mich noch nicht zu dir.“
Damals glaubten viele, Chávez werde die Präsidentenwahl am 7. Oktober nicht mehr erleben. Es ist wenig über seine Krankheit bekannt; sie wird wie ein Staatsgeheimnis gehütet. Im Vorjahr soll der Comandante auf Kuba dreimal operiert worden sein. In dieser Zeit wurde das Land hauptsächlich per Twitter regiert, lästert die Opposition, die öffentlich fragt, ob die lange Absenz des Staatschefs verfassungskonform sei. Mitte Juli jedoch ließ sich Hugo Chávez als Kandidat für das Präsidentenvotum registrieren und teilte bei dieser Gelegenheit mit: „Ich bin absolut gesund und habe sogar angefangen, wieder eine Runde zu gehen!“
Der 58-Jährige gibt nicht mehr den streitbaren Caudillo, der „den Yankees einen Knock-out verpassen“ will, sondern den versöhnlich milden, teils romantischen Survivor. „Chávez, corazón de mi patria“ wird als das Chanson seiner Wahlkampagne intoniert. „Chávez, Herz meines Vaterlandes“, heißt es da und weiter: „Chávez ya no soy yo, Chávez es el pueblo“ (Chávez, das bin ich schon längst nicht mehr allein, Chávez ist das Volk).
Ein einziges Jahr
Verantwortlich für diese Metamorphose zeichnet Joao Santana, ein brasilianischer Marketingstratege, der zuvor schon in seinem Land die Kampagne für die Lula-Nachfolgerin Dilma Roussef managte. Santana versucht, die hartgesottene Chávez-Rhetorik weichzuspülen, wo es nur geht. Slogans wie „Yankees, fahrt zur Hölle!“ mögen zwar gut bei seinem Anhang ankommen, doch hat Chávez als Scharfmacher kaum Chancen, Stimmen bei den noch Unentschiedenen einzusammeln. Aber jede Konzilianz hat Grenzen: „Zu den Reichen im Land sage ich“ – so der Wahlkämpfer zuletzt gewohnt forsch –, „Sie tun gut daran, mich zu wählen, denken Sie darüber nach! Sind Sie an einem Bürgerkrieg interessiert? Ich glaube, keiner von Ihnen ist das!“
Wer verstehen will, weshalb 14 Jahre nach der ersten Präsidentschaft noch immer so viele Venezolaner hinter Chávez stehen, der sollte zum Gang durch Caracas aufbrechen und mit den Menschen reden. Mit Maria Toro etwa, der Eigentümerin eines Souvenirladens. „Wissen Sie, wann man eine Revolution erlebt?“, fragt sie. „Dies geschieht, wenn Wunder täglich Wirklichkeit werden. Die Bolivarische Revolution hat nur ein einziges Jahr gebraucht, um den Analphabetismus im Lande zu besiegen. Ist das keine Effizienz?“ Es sind Zweifel bei allzu viel Selbstlob angebracht, denn nach dem Statistischen Institut INE waren Ende 2011 etwa 95 Prozent der Venezolaner alphabetisiert, was trotzdem beeindruckt.
In Toros Laden stehen zwischen Hängematten und Puppen aus Afrika Kaffeebecher mit dem Bildnis der Präsidenten, der alte Omis knutscht. „Unter dem Comandante sind wir nationalistischer geworden. Deswegen werden immer mehr venezolanische Produkte gekauft. Natürlich stört das manchen, der es mit der Opposition hält. Sie kommen rein, drehen die Becher um, als ob eine Kakerlake zu sehen wäre, und rennen kreischend weg“, erzählt Toro.
Auch Elsy Torrealba glaubt fest an die Revolution und Chávez’ „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“. Man findet sie an der Esquina Caliente (heißen Ecke) am Plaza Bolívar im Zentrum von Caracas. „Ich bin eine Revolutionärin“, sagt die 55-Jährige. Torrealbas Esquina besteht aus sechs Reihen mit Plastikstühlen, von denen aus Senioren das in einem Partyzelt dargebotene Fernsehprogramm verfolgen können, das allerlei Gutes über die Revolution verkündet. Torrealba hat klare Vorstellungen, wie ein Revolutionär sein soll. „Das ist jemand wie Ché Guevara, der alles für die Gemeinschaft gibt, ohne davon selbst Vorteile zu haben. Ich selbst hatte bisher nicht viel von der Revolution, aber es geht Venezuela deutlich besser. Und allein das zählt!“
„Die Nachfolge ist nicht geregelt"
„Señor, das führt zu weit. Aber gut, denken Sie nur an die Misión Sucre, die Misión Barrio Adentro, die Misión Vivienda, die Misión Robinson, die Misión En Amor Mayor ...!“ Torrealba vergisst kein Sozialprogramm der Regierung. In der Tat hat Hugo Chávez Milliarden in die Bildung seiner Landsleute, eine kostenlose Gesundheitsfürsorge, in Wohnungen für Arme und Pensionen für Alte gesteckt. Die Popularität des Präsidenten stieg oder fiel mit den Ausgaben für die Misiónes. Hugo Pérez, Professor für Sozialwissenschaft an der Universität Caracas, relativiert, sicher sei die Armut im Land gewichen. Aber das gelte nur bis 2007. Seitdem gebe es wieder einen entgegengesetzten Trend.
Beim Votum am 7. Oktober ist Henrique Capriles der aussichtsreichste Bewerber der Opposition. Der Sohn einer jüdischen Polin und eines Vater mit Wurzeln auf Curacao kommt aus einem wohlhabenden Milieu. Der 40-Jährige setzt sich vom „alten, angeschlagenen Caudillo“ (wie er Chávez bezeichnet) schon dadurch ab, dass er seine Wahlmeetings regelmäßig nach kilometerlangen Fußmärschen erreicht, was Chávez zu parieren sucht, indem er seinen Gegner nie beim Namen, sondern stets nur Majunche – Verlierer – nennt. Capriles verkörpere die Oligarchie, der nichts weiter vorschwebe, als die seit 1999 verfolgte Sozialpolitik zu beenden. Tatsächlich hat der Bewerber mehrfach angedeutet, bei einigen Misiónes bleiben zu wollen.
Anfangs führte Chávez in allen Umfragen, doch Capriles hat aufgeholt. Hugo Pérez meint: „Wer auch immer gewinnt, muss sich einer Inflation von mehr als zehn Prozent wie einer völlig außer Kontrolle geratenen Kriminalität erwehren. Zudem ist Venezuela hoch verschuldet. Genau genommen wäre es für Chávez gar nicht so schlecht, jetzt dem unerfahrenen Capriles den Vortritt zu lassen, um in fünf Jahren als Retter in Not zurückzukehren.“
Was passiert, sollte sich die Gesundheit von Chávez erneut verschlechtern? Pérez: „Die Nachfolge ist nicht geregelt, aber es gibt Kandidaten wie Außenminister Nicolás Maduro, Parlamentspräsident Diosdado Cabello oder jemanden aus der Chávez-Familie. Sie alle haben zwar nicht dieses Charisma, aber der Chávismo wird nicht von heute auf morgen verschwinden. Chávez hat Hunderttausende politisiert – von moderaten Sozialdemokraten über Kommunisten bis zu Milizionären in den Volksvierteln von Caracas, die ihre Revolution verteidigen wollen.“
„Reich sein ist schlecht, reich sein ist inhuman!“, intonierte Chávez 2009. „Es ist wichtiger, nützlich zu sein!“ Um zu unterstreichen, was gemeint war, aß er einen Keks, der aus dem Mund eines neben ihm stehenden Knirpses kam. „Schauen Sie sich dieses Kind an, merken Sie sich seine Generosität! Später kommt die kapitalistische Gesellschaft, die uns mit Egoismus betankt. Aber dieses Kind teilt mit mir, was es in seinem Mund hat. Gott segne es!“
Gott segne dieses Kind!
Laut Vladimir Villegas, einst Vizeaußenminister, sei es eine Illusion zu glauben, dass aus Venezuela ein sozialistisches Land werde. „Chávez ist ein Mann der Armee, demokratische Institutionen findet er hinderlich. Er ist letztendlich nur an einem interessiert – und das ist die Macht. Er träumt von einem Superstaat, der ihm völlig zu Diensten ist. Ich weiß nicht, ob er einen Masterplan hat, wo genau er mit seinem Land hin will. Natürlich redet er viel über Simon Bolívar, aber irgendwann zeigte er sich auch am Dritten Weg von Tony Blair interessiert. Wie kann das Sozialismus sein? Seine Politik erinnert an tropischen Obstsalat. Von allem etwas.“
Seit Villegas 2007 mit Chávez brach, schmäht er ihn als zwielichtigen Populisten, der seinem Land mehr schade als nütze. „Die Gewaltenteilung funktioniert nicht mehr. Wir haben mittlerweile Militärrichter. Weder ist die Autonomie der Universitäten garantiert noch das Privateigentum geschützt.“ Kaum anders äußert sich Douglas Bravo, Venezuelas berühmtester Ex-Guerillero, der in den siebziger Jahren in den Bergen gegen die Armee kämpfte. 1992 holte er zusammen mit Chávez und anderen Militärs zu einem Coup d’Etat aus, der scheiterte. Seinerzeit habe Chávez, erinnert sich Bravo, noch nicht an den Sozialismus geglaubt. „Sein größtes Verdienst besteht darin, dass unter seiner Präsidentschaft, Venezuelas politische Linke erstmals darüber nachdenken musste, was sie genau will. Ansonsten aber hat Chávez einfach die alte Bourgeoisie durch eine andere ersetzt. Für mich gibt es nichts Sozialistisches an seiner Politik. In Venezuela dreht sich noch immer alles um die Öl-Einnahmen. Wir haben eine Economía de Puerto (Hafenwirtschaft J.K.). Wir produzieren nichts, die Landwirtschaft ist tot, wir importieren nur. Trotz seiner linken Rhetorik bleibt Chávez Garant für das Öl des kapitalistischen Westens. Daher herrscht bei uns noch immer Staatskapitalismus.“
Hugo Chávez selber sieht das natürlich anders. „Ein Wahlsieg ist kein Luxus – das ist eine Notwendigkeit!“, schärft er bei allen Kundgebungen seinen Anhängern ein. „Eine Niederlage für die Bolivarische Revolution wäre nicht nur eine Niederlage für Venezuela. Es wäre eine Niederlage für die ganze Welt!“
Jeroen Kuiper hat jüngst im Freitag über das Los der Bergarbeiter in den Steinkohlengruben Kolumbiens geschrieben
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.